Brautpaar Marie und der junge Drosselmeier

12) Beschluss:

 

Prrr – puff machte es plötzlich. Marie schien aus unermesslicher Höhe herab zu fallen und spürte einen heftigen Stoß. Als sie die Augen öffnete, lag sie wieder in ihrem Bett. Ihre Mutter stand im Zimmer und sprach zu ihr: „Guten Morgen, liebe Marie. Du hast sehr lange geschlafen. Unten in der Küche wartet bereits das Frühstück auf dich“. Ihr erkennt sicher, liebe Kinder, dass Marie von den vielen Wunderdingen ganz betäubt gewesen war, die sie im Puppenreich gesehen hatte. Im Kristallsaal des Marzipanschlosses war sie dann eingeschlafen und von den Dienern in ein goldenes Himmelbett gelegt worden. Anschließend hatten die vier Prinzessinnen mit einem Zauberspruch dafür gesorgt, dass Marie wohlbehalten aus dem Puppenreich in die Welt der Menschen zurückkehren konnte.

Ach, liebste Mama“, sprudelte es aus der kleinen Marie heraus, „du glaubst nicht, wo mich der junge Herr Drosselmeier heute Nacht überall hingeführt hat. Ich habe dort ganz viele wunderbare Dinge gesehen“. Dann erzählte sie ihrer Mutter ganz genau, was sich alles in der letzten Nacht zugetragen hatte. Diese sah sie verwundert an und strich ihrer Tochter dann liebevoll mit der Hand über den Kopf. „Du hast einen langen, schönen Traum gehabt, liebe Marie“, erwiderte die Mutter, " aber das ist nun vorbei“. Das kleine Mädchen bestand hartnäckig darauf, dass es kein Traum gewesen sei und sie tatsächlich alles genau so erlebt habe. Schließlich nahm die Mutter ihre Tochter an die Hand und führte sie zum Glasschrank im Wohnzimmer. Ihr Vater trat ebenfalls hinzu. Nachdem die Mutter den Nussknacker aus seinem Fach hervorgeholt hatte, sprach sie mahnend zu ihrer kleinen Tochter: „Wie kannst du nur glauben, dass diese Nürnberger Holzpuppe lebendig sein soll?“ „Aber, liebe Mama,“ unterbrach sie Marie. „Ich weiß jetzt genau, dass mein Nussknacker der Neffe des Patenonkels Drosselmeier ist. Die Mäusekönigin hat ihn verhext und nur deshalb steht er so starr und leblos im Schrank“. Maries Eltern begannen schallend zu lachen. Offensichtlich wussten sie auch nicht, dass Puppen und Spielzeugfiguren um Mitternacht lebendig werden, wenn die Menschen in ihren Betten liegen und schlafen. „Jetzt lacht ihr auch noch meinen lieben Nussknacker aus“, fuhr Marie beinahe weinend fort. „Dabei hat er doch über dich, lieber Vater, sehr gut gesprochen, als wir im Marzipanschloss seinen Schwestern, den Prinzessinnen, vorgestellt wurden. Er sagte ihnen, dass du ein sehr achtbarer Mediziner bist“. Das Gelächter der Eltern, in das jetzt auch ihr Bruder Fritz einstimmte, wurde noch stärker. Ja, liebe Kinder, die Großen glauben immer nur das, was sie glauben wollen. Und dann behaupten sie auch noch von sich selbst, sie seien erwachsen!

Als Marie sich nicht mehr anders zu helfen wusste, lief sie in ihr Kinderzimmer und holte die Kette mit den sieben goldenen Kronen des Mausekönigs aus der Schublade ihres Nachttischs. „Seht her, liebe Eltern, das sind die Kronen des Mausekönigs, die mir der Nussknacker in der letzten Nacht geschenkt hat. Sie beweisen, dass er diese böse Maus besiegt hat und dass ich die Wahrheit sage“. Die Eltern staunten sehr über die kleine Kronen, die aus einem unbekannten Metall bestanden und offensichtlich sehr kunstfertig gearbeitet worden waren. Vater und Mutter wollten nun von Marie wissen, wie sie in den Besitz der Kronen gekommen sei. Als das Mädchen auf seiner Geschichte beharrte, bezeichnete ihr Vater sie als kleine Lügnerin und drohte ihr mit einer Bestrafung. „Ach ich armes Kind!“, klagte Marie weinend. „Was soll ich denn jetzt nur sagen?“ In diesem Augenblick öffnete sich die Tür zum Wohnzimmer und der Amtsrichter Drosselmeier trat herein. „Ja, was ist denn hier geschehen?“, rief er bestürzt aus. „Mein kleines Patenkind Marie weint und schluchzt? Wie kann ich dir denn helfen, Marie?“ Maries Vater klärte ihn auf und zeigte ihm auch die goldfarbene Kronen. Der Patenonkel Drosselmeier lachte laut und sagte dann: „Das ist ja eine phantastische Geschichte, die ihr mir da erzählt! Diese kleinen Kronen trug ich früher an der Kette meiner Taschenuhr. Als Marie zwei Jahre alt wurde, habe ich sie ihr geschenkt, denn sie spielte immer damit herum. Wisst ihr es denn nicht mehr?“ Weder der Vater noch die Mutter konnten sich daran erinnern, aber Marie sah, dass die Gesichter ihrer Eltern wieder freundlich geworden waren. Kurzentschlossen stürmte sie auf ihren Patenonkel zu und rief: „Du weißt doch genau, was tatsächlich geschehen ist, Onkel Drosselmeier. Nun gib doch schon zu, dass der Nussknacker dein Neffe, der junge Herr Drosselmeier aus Nürnberg, ist und dass er mir die Kronen geschenkt hat.“ Aber der Amtsrichter schüttelte nur den Kopf. „Das ist dummes Zeug, liebe Marie“, erwiderte er und ging ins Wohnzimmer, wo Maries große Schwester Luise gerade den Teetisch bereitete. Maries Vater nahm seine kleine Tochter beiseite und sagte sehr ernsthaft zu ihr: „Höre mir jetzt gut zu, mein Kind. Wenn du weiterhin so unglaubliche Geschichten erzählst, dann werfe ich nicht nur den Nussknacker, sondern mit ihm all deine anderen Puppen durch das Fenster hinaus auf den Müll. Das gilt dann auch für Mamsell Klärchen“. Marie hielt es deshalb für ratsam nichts mehr über ihre gemeinsamen Abenteuer mit dem Nussknacker zu erzählen. Das war natürlich sehr schwierig, denn noch nie hatte ein kleines Mädchen so viele wunderbare Dinge gesehen und erlebt wie sie selbst im Puppenreich. All diese wunderbaren Eindrücke erfüllten ihr kindliches Gemüt. Leider schloss sich ihr Bruder Fritz der Meinung seiner Eltern über Maries Erzählungen an. Wenn sie ihm vom Puppenreich berichten wollte, drehte er ihr sofort den Rücken zu und ließ sie stehen. “Einfältige Gans!“, soll er angeblich sogar gemurmelt haben, aber das wollen wir angesichts seines gutmütigen Charakters nicht glauben. Jedenfalls entschloss er sich das Strafurteil wieder aufzuheben, das er zuvor gegen seine roten Husaren verhängt hatte. Sämtliche Spielzeugsoldaten waren zur öffentlichen Parade angetreten, als er die Husaren förmlich um Verzeihung bat und ihnen wieder erlaubte den Gardehusarenmarsch zu blasen. Als Ersatz für die abgeschnittenen Feldzeichen heftete er ihnen viel größere Büsche aus Gänsekielen an die Dienstmützen. Nun, liebe Kinder, wir wissen am besten, wie es um den Mut der roten Husaren bestellt war, als sie von den Mäusen mit stinkenden Kugeln beworfen wurden und ihre Uniformen hässliche Flecken davontrugen!

 

Obwohl Marie nicht mehr über ihre Erlebnisse sprechen durfte, beschäftigten diese doch ihre gesamte Vorstellungswelt. Immer öfters lenkte sie ihre Gedanken fort aus dem Alltag der Familie Stahlbaum und hinein in das wunderbare Puppenreich. Dort war alles so viel glänzender, schöner und aufregender als in der biederen Stadt Berlin im Jahr 1816. Statt wie früher zu spielen, saß sie dann still und in sich gekehrt vor dem Glasschrank im Wohnzimmer. Deshalb wurde sie von ihrer ganzen Familie eine kleine Träumerin gescholten.

An einem Sonntag saß sie wieder vor dem Glasschrank, als der Patenonkel Drosselmeier zu Besuch kam. Während er eine der Standuhren reparierte, betrachtete Marie in Gedanken versunken ihren Nussknacker. „Ach, lieber Herr Drosselmeier“, rief sie unwillkürlich aus. „Ich würde mich nicht so schlecht benehmen wie die Prinzessin Pirlipat, die sie aus ihrem Palast vertreiben ließ. Schließlich sind Sie doch nur so hässlich geworden, weil sie die Prinzessin vom Fluch der Mäusekönigin befreit haben. Wäre ich Pirlipat, dann hätte ich Sie wie versprochen geheiratet“. In diesem Augenblick rief der Patenonkel Drosselmeier kopfschüttelnd: „Was für einfältige Dinge erzählst du denn da wieder, kleines Patenkind!“ Daraufhin hörte Marie einen lauten Knall und verspürte einen Stoß, der sie ohnmächtig vom Stuhl sinken ließ.

Als sie wieder erwachte, lag sie auf dem Sofa im Wohnzimmer und die Mutter saß neben ihr auf einem Sessel. „Wie kann man in deinem Alter noch vom Stuhl fallen“, bemerkte die Mutter tadelnd. „Und jetzt solltest du wieder auf die Beine kommen und den Neffen deines Patenonkels Drosselmeier begrüßen. Dieser ist soeben aus Nürnberg eingetroffen“. Hinter der Mutter erblickte Marie jetzt den Amtsrichter Drosselmeier, der wieder seine Glasperücke und seinen gelben Rock trug und sehr zufrieden aussah. Neben ihm stand ein junger Mann. Er war zwar klein, aber ansonsten von gutem Körperbau und hatte hübsche Gesichtszüge. Er trug einen eleganten Anzug in Rot und Gold, dazu einen Degen an der Hüfte und einen Hut unter dem Arm. Sein Haar war kunstvoll gepudert und zu einer schönen Frisur geformt. In seinem Nacken entdeckte Marie einen großen, kunstvoll geflochtenen Zopf. Seine angenehmen Manieren bewies der junge Mann durch die Auswahl seiner mitgebrachten Gastgeschenke. Marie schenkte er Marzipan und genau dieselben Zucker- und Tragantfiguren, die der Mausekönig zerbissen hatte. Ihrem Bruder Fritz überreichte er mit einer höflichen Verbeugung einen schönen Spielzeugsäbel. Am Esstisch der Familie knackte der junge Drosselmeier für die ganze Familie Nüsse auf. Dazu steckte er sie einfach in den Mund und zog dann selbst mit der rechten Hand an seinem Zopf. Selbst die härtesten Nussschalen zerbrachen augenblicklich.

 

Marie errötete bis hinunter zum Halsansatz, während sie den jungen Neffen ihres Patenonkels beobachtete. Und sie wurde noch verlegener, als dieser sie einlud mit ihm ins Wohnzimmer zu gehen und vor den Glasschrank zu treten. „Spielt nur schön miteinander, liebe Kinder“, rief der Patenonkel Drosselmeier hinter ihnen her. „Da alle meine Uhren wieder richtig schlagen, habe ich nichts mehr dagegen. Mein Uhrmacherwerkzeug habe ich bereits zusammengepackt, so dass es euch nicht stören wird“. Überrascht stellte Marie im Wohnzimmer fest, dass ihr Nussknacker aus seinem Schrankfach verschwunden war. Als der junge Drosselmeier mit Marie alleine im Wohnzimmer stand, ließ er sich sehr galant auf ein Knie nieder und sprach zu ihr: „Liebste Marie, vor dir siehst du den glücklichen, jungen Drosselmeier, dem du hier an dieser Stelle in der Schlacht das Leben gerettet hast. Du hast mir versprochen, dass du dich nicht so schändlich wie die Prinzessin Pirlipat verhalten hättest. Du wärst bereit gewesen mich trotz meiner Hässlichkeit zu heiraten. In diesem Augenblick wurde der Zauberbann der Mäusehexe gebrochen und ich hörte auf ein Nussknacker zu sein. Jetzt habe ich meine nicht unangenehme Gestalt zurückerhalten. Ich bin wieder ein Mensch aus Fleisch und Blut. Liebste Marie, ich möchte hiermit um deine Hand anhalten. Wenn du mich heiratest, sollst du an meiner Seite im Puppenreich auf dem Marzipanschloss als Königin herrschen.“

Marie fasste den Jüngling an beiden Händen und bat ihn aufzustehen. Dann erwiderte sie leise: „Lieber Herr Drosselmeier! Sie sind ein sanftmütiger, guter Mensch und regieren als König ein sehr schönes Land mit lustigen Einwohnern. Daher nehme ich Ihren Heiratsantrag an“. Daraufhin wurde Marie sogleich Drosselmeiers Braut. Nach Ablauf der einjährigen Verlobungsfrist soll er sie in einer goldenen Kutsche abgeholt haben, die von silbernen Pferden gezogen wurde. Auf ihrer Hochzeit tanzten zweiundzwanzigtausend der schönsten Puppen sieben Tage und Nächte lang. Jetzt soll Marie die Königin eines Landes sein, in dem man überall funkelnde Weihnachtswälder, herrliche Marzipanschlösser und viele andere wunderbare Dinge erblickt, wenn man sich das nur vorstellen kann.

Das war das Märchen vom Nussknacker und Mausekönig.

 

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