7-1) Das Märchen von der harten Nuss - Teil I:
Pirlipats Mutter war eine Königin und das kleine Mädchen folglich eine geborene Prinzessin. Der König war außer sich vor Freude über die hübsche, kleine Tochter, die ihn aus der Wiege heraus anlächelte. Er tanzte auf einem Bein und rief: "Juchhu! Hat man je etwas Schöneres gesehen als meine kleine Pirlipat?" "Nein, niemals!", schrien alle Minister, Generale und Kammerherren und tanzten vor Freude ebenfalls auf einem Bein. Eine andere Antwort hätte den König wohl auch sehr verärgert und war daher nicht ratsam. Man musste aber feststellen, dass die kleine Pirlipat wirklich ein wunderschönes Kind war. Goldene Locken umrahmten ein hübsches Gesicht, aus dem zwei himmelblaue Augen neugierig in die Welt hinaus sahen. In ihrem Kindermund blitzten zwei Reihen schneeweißer Zähne, mit denen sie gleich nach der Geburt den Reichskanzler des Königs in den Finger biss. Das ganze Königreich war darüber entzückt und wusste nun, dass die kleine Pirlipat auch mit Geist, Charakter und Verstand gesegnet worden war. Sie besaß also alles, was eine richtige Märchenprinzessin ausmacht. Wie gesagt, alle waren sehr vergnügt, nur die Königin sah besorgt aus. Sie ließ die Wiege der kleinen Pirlipat außerordentlich stark bewachen. Der ganze Hofstaat rätselte darüber, warum jede Nacht insgesamt acht Wärterinnen im Zimmer saßen. Sechs davon hatten einen großen Kater auf dem Schoß sitzen. Die Frauen mussten die Tiere ständig streicheln, so dass sie die ganze Nacht über schnurrten und miauten. Ihr, liebe Kinder, könnt unmöglich erraten, warum die Königin soviel Aufwand betrieb, aber ich selbst weiß es und will es euch jetzt verraten.
Eines Tages hatten sich viele bedeutende Könige und Prinzen auf dem Schloss von Pirlipats Vater versammelt. Ihnen zu Ehren richtete der königliche Gastgeber Theateraufführungen, glänzende Tanzbälle und Ritterturniere aus. Er wollte zeigen, dass er der König eines reichen Landes war und griff dafür so richtig tief in seine Schatztruhen. Der Hofastronom hatte nach einem Blick in die Sterne herausgefunden, dass jetzt die richtige Zeit zum Schlachten von Kühen und Schweinen gekommen war. Also ordnete der König ein großes Wurstessen an. Allerdings lud er die Könige und Prinzen nur auf einen einzigen Teller Suppe ein, denn den Rest wollte er alleine verspeisen. Nun sprach er liebevoll und bedeutsam zu seiner Ehefrau: "Du weißt ja, wie ich die Würste am liebsten esse, mein Liebling!" Nach so vielen Ehejahren war der Königin sofort klar, was dieser Satz bedeutete. Der König wollte, dass sie selbst und nicht der Koch das Wurstessen vorbereiten sollte. Unverzüglich lieferte der Oberschatzmeister einen goldenen Wurstkessel und silberne Kochtöpfe in der Schlossküche ab. Die Küchenjungen entfachten ein großes Feuer aus Sandelholz im Herd, während die Königin ihre Küchenschürze umband und sich an die Arbeit machte. Schon bald zogen die Wohlgerüche aus dem Wurstkessel durch das ganze Schloss bis in den Beratungssaal des Staatsrates hinein. Dort saß der König mit seinen Ministern und sollte sich eigentlich seinen Staatsgeschäften widmen. "Mit ihrer Erlaubnis, meine Herren!", rief der entzückte König aus und sprang schnell aus der Sitzung heraus in die Küche hinunter, wo er die Königin umarmte. Dann rührte er mit seinem goldenen Zepter im Wurstkessel herum und kehrte anschließend beruhigt in seinen Beratungssaal zurück. Die Minister wussten jetzt, woher der Ausspruch stammt: "Es geht um die Wurst!"
Die Königin schnitt gerade den Speck in Würfel, um ihn anschließend auf dem Grill zu rösten. Da hörte sie eine feine Stimme: "Gib' mir etwas ab von dem Braten, liebe Schwester! Ich will festlich speisen, denn ich bin ja auch eine Königin wie du!" Die Königin wußte sofort, dass die Mäusekönigin Mauserinks gerade zu ihr gesprochen hatte. Diese wohnte mit ihrer großen Familie unter dem Herd und gab an die Herrscherin des Königreichs Mausolien zu sein. Im Übrigen behauptete sie mit der Königin verwandt zu sein. Pirlipats Mutter war keinesfalls der Meinung, dass Frau Mauserinks zu ihrer eigenen Familie gehöre. Aber sie gönnte der kleinen Mäusekönigin ihr Festessen von ganzem Herzen und rief ihr daher zu: "Kommt ruhig heraus, Frau Mauserinks, und nehmt euch etwas von dem gerösteten Speck." Sogleich hüpfte die kleine Maus flink und lustig unter dem Küchenherd hervor. Sie sprang auf den Ofen und griff mit ihren zierlichen Pfoten nach den Speckstücken auf dem Grill. Aber was geschah jetzt? Innerhalb von wenigen Sekunden erschienen sämtliche Verwandte von Frau Mauserinks oben auf dem Ofen und machten sich über den Speck her. Die sieben Söhne der kleinen Mäusekönigin waren hierbei besonders gefräßig. Erst mit Hilfe des Kochs und einer Hofdame konnte die erschrockene Königin die Mäuse wieder verjagen. Allerdings hatten diese einen Großteil des Specks aufgefressen. Der Schaden war also angerichtet! Mit Hilfe eines Mathematiklehrers wurde der restliche Speck kunstvoll auf die Würste verteilt und das Essen anschließend serviert.
Auf dem Schloss erschallten Trommeln und Trompeten, als die Könige und Prinzen mit ihren Kutschen und in festlicher Kleidung zum Wurstessen vorfuhren. Sie alle hatten von der Kochkunst der Königin gehört; entsprechend groß waren ihre Erwartungen an das Essen. Der König empfing sie sehr herzlich und führte sie in den Festsaal. Nachdem er als Landesherr sein Zepter und seine Krone angelegt hatte, setzte er sich selbst an die Spitze des Tischs. Als die Leberwürste serviert wurden, sah man, dass der König erblasste und leise seufzte. Ein tiefer Schmerz schien in seiner Brust zu wühlen, bevor er flehentlich zum Himmel sah. Aber von dort war offensichtlich auch keine Hilfe zu erwarten! Kaum waren die Blutwürste aufgetischt, da sank der König in seinem Lehnstuhl schluchzend zusammen und schlug die Hände vor das Gesicht. Er stöhnte und jammerte so sehr, dass der Leibarzt gerufen wurde und seinem Herrscher starke Medikamente verabreichen musste. Schließlich stammelte der König nach vielem Zureden: "Zu wenig Speck!" Da warf sich die Königin fassungslos vor seine Füße und schluchzte: "Oh, mein armer Ehemann! Welchen Schmerz müssen Sie erdulden! Welches Leid frisst an Ihrer Seele! Hier zu Ihren Füßen sehen Sie die Schuldige - bestrafen Sie mich hart, denn ich habe es verdient! Ach, Frau Mauserinks und ihre Mäusefamilie haben den Speck aufgefressen und...." Damit wurde die Königin ohnmächtig und musste von den Dienern in ihr Bett getragen werden. Der König sprang voller Zorn aus seinem Lehnstuhl und fragte die Hofdame: "Wie konnte das geschehen?" Nachdem er ihren Bericht gehört hatte, beschloss er sich an der Mäusekönigin und ihrer Familie zu rächen. Niemand durfte ihm ungestraft den Speck wegessen!
Daher beschloss die königliche Regierung, Frau Mauserinks vor Gericht zu stellen und ihr gesamtes Eigentum zu beschlagnahmen. Der König wandte jedoch ein, dass die Mäuse ihm dann immer noch den Speck wegfressen könnten und das dürfe auf keinen Fall wieder geschehen. Also wurde der Fall dem Hofuhrmacher Christian Elias Drosselmeier übertragen, der auch ein Fachmann für die Herstellung von kostbarem Porzellan war. Dieser besonders kluge Mann sollte dafür sorgen, dass Frau Mauserinks und ihre Familie für alle Zeiten aus dem Palast vertrieben werden konnten. Er erfand kleine Mäusefallen, in denen Speckstücke an einem Faden hingen. Wenn eine Maus in den kleinen Käfig hineinkroch, um sich den leckeren Speck zu holen, fiel eine Falltür zu und die Maus war gefangen. Drosselmeier stellte viele dieser Maschinen rund um den Herd in der Schlossküche auf. Frau Mauserinks selbst war viel zu klug, um dem Mäusejäger in die Falle zu gehen, aber das galt leider nicht für den Rest ihrer Familie. Auch ihre sieben Söhne konnten dem köstlichen Geruch des gebratenen Specks nicht widerstehen und ließen sich fangen. Anschließend wurden alle gefangenen Mäuse dem Ofenheizer übergeben, der sie mit seinem Beil ermordete.
Frau Mauserinks verließ mit den wenigen Überlebenden den Ort des Grauens. Sie war nie bösartig gewesen, aber jetzt erfüllten Schmerz, Verzweiflung und der Wunsch nach Rache ihr kleines Herz. Niemand hatte das Recht wegen etwas Speck zu töten, auch nicht der König in seinem Palast. Der Hofstaat des Königs jubelte sehr über die erfolgreiche Strafaktion; lediglich die Königin war sehr besorgt. Sie wusste, dass Frau Mauserinks über geheime Zauberkräfte verfügte, die sie bisher nie gegen Menschen eingesetzt hatte. Aber der Massenmord an ihren Mäusekindern und der restlichen Familie ließ erwarten, dass die kleine Mäusekönigin sich rächen würde. Soviel Unrecht und Leid konnte niemand auf der Welt ertragen!
Eines Tages briet die Königin gerade Fleischspieße für ihren Mann auf dem Ofen, als Frau Mauserinks plötzlich erschien. "Meine Söhne, meine Brüder und Schwestern, meine Onkel und Tanten habt ihr erschlagen," rief die Mäusekönigin voller Verzweiflung und Zorn. "Hüte dich vor mir, Frau Königin, denn ich werde deine Prinzessin Pirlipat in zwei Stücke zerbeißen." Mit diesen Worten verschwand sie wieder. Die Königin erschrak sich dermaßen, dass sie die Fleischspieße anbrennen ließ. So hatte Frau Mauserinks dem König zum zweiten Mal eines seiner Lieblingsessen verdorben, worüber dieser sehr zornig war. Er ahnte noch nicht, welch schlimmes Schicksal seiner kleinen Tochter bevorstand!
"Nun ist es aber genug für heute," rief der Patenonkel Drosselmeier Marie und Fritz zu."Morgen werde ich euch den zweiten Teil der Geschichte erzählen". Marie machte sich ihre eigenen Gedanken über diese Geschichte und bat Drosselmeier eindringlich doch weiter zu erzählen. Das lehnte ihr Patenonkel jedoch ab. Als er bereits in der Tür stand und gehen wollte, fragte Fritz: "Verrate uns, Onkel Drosselmeier, ob du tatsächlich die Mäusefallen erfunden hast, oder nicht?" "Wie kann man nur so alberne Fragen stellen?", tadelte die Mutter ihren Sohn. Aber Drosselmeier lächelte nur sehr seltsam und antwortete leise: "Ich bin so ein geschickter Uhrmacher. Warum sollte ich nicht fähig sein Mäusefallen zu erfinden?" Mit diesen Worten verließ er das Haus und verschwand im Dunkeln der kalten Winternacht.