In der Sternwarte Drosselmeier und der Hofastronom in der Sternwarte

 

 

7-2) Das Märchen von der harten Nuss - Teil II:

 

Liebe Kinder, jetzt wisst ihr also, warum die Königin die kleine Prinzessin Pirlipat so sorgfältig bewachen ließ. Immerhin musste sie fürchten, dass Frau Mauserinks zurückkehren und ihre kleine Tochter tot beißen würde. Die Mäusefallen des Uhrmachers Drosselmeier konnten der Mäusekönigin nichts anhaben. Allerdings behauptete der Hofastronom nach einem Blick in die Sterne, dass die Katzenfamilie des Katers Schnurr in der Lage sei die kleine Pirlipat zu schützen. Der Kater und fünf seiner Söhne wurden daher aus dem Schlosspark in das Kinderzimmer der Prinzessin umgesiedelt und als Staatsbeamte eingestellt. Nacht für Nacht saßen sie jetzt auf dem Schoß der Wärterinnen und bewachten die Wiege der kleinen Prinzessin. Die Frauen streichelten die Kater ununterbrochen, um sie wach zu halten und ihnen den schweren Staatsdienst angenehmer zu machen. Eines Nachts schreckte eine Wärterin hoch, denn sie war eingeschlafen und wäre beinahe vom Stuhl gefallen. Um sie herum herrschte völlige Stille. Kein Kater schnurrte und man hätte eine Nadel hören können, die zu Boden fällt. Alle Frauen im Raum samt ihrer Katzen schliefen tief und fest. Aber was war das?

Eine große, hässliche Maus hatte sich auf ihren Hinterfüßen aufgerichtet und legte ihren Kopf auf das Gesicht der kleinen Pirlipat. Vor Entsetzen schrie die Wärterin auf. Frau Mauserinks sprang blitzschnell aus der Wiege und lief in die Ecke des Kinderzimmers. Die Kater stürzten sich sofort auf sie, aber es war zu spät. Durch ein kleines Loch in der Wand verschwand die Maus, bevor ihre Jäger sie mit ihren Krallen und Zähnen fangen konnten. In der Wiege begann Pirlipat zu weinen, denn der Lärm hatte sie erschreckt. "Gott sei Dank, sie lebt!", dachten die Wärterinnen erleichtert. Aber als sie in die Wiege sahen, erschraken sie doch sehr. Das wunderschöne Kind war durch die böse Zauberei der Mäusekönigin über Nacht sehr hässlich geworden. Ein unförmiger, viel zu großer Kopf saß auf einem winzigen, zusammengekrümmten Körper. Pirlipats Augen waren nicht mehr himmelblau, sondern ganz grün und standen hervor. Statt lieblich zu lächeln, starrte die Kleine ihre Umgebung ganz unnatürlich an. Auch war ihr Mund jetzt so groß, dass er von einem Ohr zum anderen reichte.

 

Die Königin verstarb beinahe vor Schmerz und Wehklagen. Das Arbeitszimmer des Königs musste mit Watte ausgeschlagen werden, weil er an mehreren Tagen mit dem Kopf gegen die Wand rannte und laut klagte: "Ach, ich armer König!" Jetzt hätte er eigentlich einsehen müssen, dass die Strafaktion gegen die Familie von Frau Mauserinks ein Fehler gewesen war. Es wäre besser gewesen, die Würste einmal ohne Speck zu essen und die Mäuse in Frieden unter dem Herd leben zu lassen. Aber der König dachte gar nicht daran seinen Fehler einzugestehen. Nur Menschen von Verstand und Charakter sind dazu in der Lage und zu diesen Menschen zählte der König nun wirklich nicht. Egoismus, Zorn und Selbstmitleid bestimmten sein Handeln. Dementsprechend schob er jetzt alle Schuld am Elend seiner Tochter auf den Uhrmacher Christian Drosselmeier aus Nürnberg, der die Mäusefallen gebaut hatte. Sein Befehl war eindeutig: Drosselmeier hatte einen Monat Zeit, um die Schönheit der Prinzessin Pirlipat wiederherzustellen. Zumindest sollte er in dieser Zeit herausfinden, wie der böse Zauber der Mäusekönigin von seiner Tochter genommen werden könne. Andernfalls werde ihm der Henker mit seinem Beil den Kopf abschlagen! Das waren ja wirklich schöne Zukunftsaussichten für den armen Uhrmacher! Dieser erschrak zuerst auch sehr, aber dann besann er sich auf sein großes Geschick und Wissen. Obwohl er kein Arzt war, untersuchte er die kleine Pirlipat sehr gründlich. Ihre gesamte Erscheinung erinnerte eher an eine Holzpuppe als an einen Menschen. Er fand heraus, dass sie mit zunehmendem Alter immer unförmiger und hässlicher werden würde. Daraufhin wurde er schwermütig und saß weinend auf seinem Stuhl an Pirlipats Wiege. Diesen Sitzplatz durfte er auf Befehl des hartherzigen Königs Tag und Nacht nicht verlassen. Kurz vor Ablauf der Monatsfrist stürmte der König mit wütend funkelnden Augen in das Kinderzimmer. "Christian Drosselmeier", schrie der König, "rette meine Tochter oder du wirst sterben!" Drosselmeier begann vor Angst zu weinen, aber die kleine Pirlipat lag in ihrer Wiege und knackte vergnügt Nüsse. Erstmals fiel dem Uhrmacher der unnatürlich große Appetit der Kleinen auf Nüsse auf. Dieser hatte unmittelbar nach ihrer Verwandlung eingesetzt. Wenn Pirlipat weinte, brachten die Kindermädchen ihr sogleich Nüsse, die sie selbst mit den Zähnen knackte und verspeiste. Danach war sie sofort wieder still. Bemerkenswert war auch die Tatsache, dass Pirlipat als einziges Kind im Land bereits mit Zähnen geboren worden war.

"Oh, heiliger Instinkt der Natur!", rief Drosselmeier erleichtert. "Jetzt weiß ich endlich, was ich tun muss!" Auf seine Bitte hin traf er sich unter schwerer Bewachung mit dem Hofastronomen. Beide Männer waren seit langem gute Freunde. Sie zogen sich in ein geheimes Bücherarchiv zurück und lasen viele Bücher. Diese handelten vom Instinkt, von Sympathie und Antipathie und von Zaubersprüchen, die auch von Mäusen benutzt werden können. Als es dunkel wurde, erstellte der Hofastronom mit Drosselmeiers Hilfe das Horoskop der kleinen Prinzessin Pirlipat. Das war eine schwierige Kunst, denn die Linien in den Sternen verwirrten sich immer mehr, wenn es um die Zukunft der kleinen Pirlipat ging. Nach vielen Versuchen gelang es den beiden Männern endlich die Lösung für ihr Problem zu finden: Pirlipat musste den Kern der Nuss Krakatuk essen, um ihre ehemalige Schönheit wiederzuerlangen! Diese Erkenntnis war eigentlich ein Grund zum Feiern, aber wie immer hatte die ganze Angelegenheit gleich mehrere Haken: Die Nuss Krakatuk war so hart, dass eine schwere Kanone über sie hinwegrollen konnte ohne die Nussschale zu zerbrechen. Obendrein musste sie von einem Mann zerbissen werden, der sich noch nie rasiert und noch nie Stiefel getragen hatte. Dieser musste die Nuss vor den Augen der Prinzessin aufbeißen und ihr den süßen Nusskern mit geschlossenen Augen überreichen. Anschließend sollte er sieben Schritte rückwärts gehen ohne zu stolpern. Erst danach durfte er die Augen wieder öffnen.

 

Drosselmeier und der Hofastronom hatten drei Tage und drei Nächte durchgearbeitet und es war darüber Samstag geworden. Am Sonntagmorgen sollte Drosselmeier durch den Henker geköpft werden. Als der König gerade beim Mittagessen saß, stürmte der Uhrmacher in den Saal und verkündete das Ergebnis seiner Arbeit. Der König umarmte ihn freudig. Dann versprach er ihm ein neues Schwert, vier Orden und teure Kleidung, sofern die Prinzessin Pirlipat tatsächlich ihre alte Gestalt zurückerhalten sollte. "Gehen Sie gleich nach dem Mittagessen an die Arbeit, lieber Herr Drosselmeier," befahl der König gutgelaunt. "Finden Sie diesen unrasierten jungen Mann in Schuhen und diese Nuss Krakatuk. Der Jüngling darf keinen Alkohol trinken, bevor er die sieben Schritte rückwärts nicht fehlerfrei getan hat. Danach kann er mir gerne den Weinkeller leer saufen." Drosselmeier war sehr bestürzt über die Worte des Königs. Es würde sehr schwierig werden, die Nuss Krakatuk und den passenden Jüngling überhaupt zu finden. Möglicherweise gab es beide im ganzen Königreich gar nicht, sondern nur irgendwo in der großen, weiten Welt. "Dann bleibt es eben beim Köpfen!", schrie der König erbost und schwang drohend sein Zepter. Jetzt schaltete sich die Königin ein, die Mitleid mit dem armen Uhrmacher hatte. Sie machte ihrem königlichen Ehemann klar, dass Drosselmeier die ihm gestellte Aufgabe eigentlich gelöst hatte. Damit habe er gleichzeitig auch sein Leben gewonnen. Eine Hinrichtung dürfe es deshalb nicht mehr geben. "Das sind nur dumme Ausreden und einfältiger Schnickschnack!", schimpfte der König. Da er jedoch gut gegessen und getrunken hatte, hob er das Todesurteil gegen den Uhrmacher wieder auf. Stattdessen sollten Drosselmeier und der Hofastronom sich gemeinsam auf die Suche nach der Nuss Krakatuk machen. Den jungen Mann zum Aufbeißen der Nuss wollte er hingegen über Inserate in verschiedenen Zeitungen und wissenschaftlichen Magazinen finden.

Hier brach der Patenonkel Drosselmeier seinen Vortrag wiederum ab. Er versprach Marie und Fritz, am nächsten Abend den letzten Teil des Märchens von der harten Nuss zu erzählen.

 

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