7-3) Das Märchen von der harten Nuss – Teil III:
Am nächsten Abend hatte die Mutter gerade die Lampen angezündet, als auch schon der Patenonkel Drosselmeier erschien, um den Kindern den Rest seines Märchens von der harten Nuss zu erzählen. Sein Namensvetter, der Uhrmacher Christian Elias Drosselmeier, und der Hofastronom waren fünfzehn Jahre lang durch die ganze Welt gereist. Leider konnten sie keine Spur der Nuss Krakatuk entdecken. Liebe Kinder, ich könnte euch vier Wochen lang berichten, welche Abenteuer die beiden erlebt hatten. Die Welt ist riesengroß und überall gibt es seltsame Orte, Völker, Tiere und Gebräuche. Als die beiden Pechvögel gerade in der Wüste Gobi saßen und eine Pfeife rauchten, überfiel sie das Heimweh besonders stark. „Oh, schöne, schöne Heimatstadt Nürnberg“, klagte Drosselmeier laut in die Wüste hinein, „auch wenn man London, Paris und Sankt Petersburg gesehen hat, so will man doch immer nur zu dir, schönes Nürnberg, zurückkehren.“ Der Hofastronom hatte ihm traurig zugehört und begann jetzt vor Heimweh zu weinen. Dann aber wischte er sich die Tränen aus den Augen und sprach: „Warum sollen wir beide hier in der Wüste herumsitzen und heulen? Es ist doch eigentlich völlig egal, wo wir diese geheimnisvolle Nuss Krakatuk suchen. Das können wir genauso gut in Nürnberg tun.“ Der Uhrmacher stimmte ihm fröhlich zu. Anschließend steckten beide ihre Pfeifen wieder ein und marschierten auf einer schnurgeraden Linie direkt aus der Wüste Gobi nach Nürnberg.
Sie waren kaum dort angekommen, als Christian Elias Drosselmeier eilig seinen Cousin Christoph Zacharias Drosselmeier besuchte. Dieser stellte Puppen her und verstand sich auch auf das Lackieren und Vergolden von Gegenständen aller Art. Der Uhrmacher erzählte seinem Cousin die ganze Geschichte von der Prinzessin Pirlipat, der Mäusehexe Mauserinks und der Nuss Krakatuk. Christoph Zacharias Drosselmeier schlug öfters die Hände vor das Gesicht und rief bestürzt: „Was für eine abenteuerliche Geschichte, lieber Christian!“ Als ihm der Uhrmacher von seiner vergeblichen Suche nach der Nuss Krakatuk berichtete, kratzte sich sein Cousin nachdenklich am Kinn. Dann sprang er plötzlich auf, umarmte seinen Gesprächspartner und sagte: „Ich kann dir helfen, lieber Christian, denn ich selbst bin wahrscheinlich der Besitzer der gesuchten Zaubernuss.“ Mit diesen Worten öffnete er einen Holzkasten und entnahm daraus eine vergoldete Nuss mittlerer Größe.
„ Zu dieser Nuss kann ich euch die folgende Geschichte erzählen: Vor vielen Jahren kam zur Weihnachtszeit ein Mann mit einem Sack voller Nüsse in unsere Stadt. Vor meinem Ladengeschäft bot er diese zum Verkauf an und geriet deswegen in Streit mit unserem einheimischen Nüsseverkäufer. Dieser wollte nicht, dass der Fremde ihm Konkurrenz machte und das eigene Geschäft verdarb; also wurde er handgreiflich. Der Fremde stellte seinen Sack Nüsse ab, um sich besser gegen den Angreifer verteidigen zu können. In diesem Moment fuhr ein schwerer Ochsenkarren über den Sack hinweg. Alle Nüsse bis auf eine einzige zerbrachen. Seltsam lächelnd bot mir der Fremde ausgerechnet diese eine Nuss zum Kauf an. Er verlangte dafür eine bestimmte Münze aus dem Jahr 1720, die sehr selten war. Merkwürdigerweise fand ich ausgerechnet diese Münze in meiner Geldbörse und kaufte deshalb die Nuss. Anschließend vergoldete ich sie, obwohl ich selbst nicht genau wusste, warum ich so viel Geld für eine einzelne Nuss bezahlt hatte und diese so sorgfältig aufbewahrte.“
Der Uhrmacher Drosselmeier hatte seinem Verwandten aufgeregt zugehört und rief den Hofastronomen herbei. Als dieser das Gold von der Nussschale abkratzte, entdeckte er das Wort „Krakatuk“, das in chinesischen Schriftzeichen in die Schale eingeritzt worden war. Alle drei umarmten sich gegenseitig vor Freude, denn jetzt waren alle Zweifel an der Echtheit ihres Fundes beseitigt. Der Hofuhrmacher Drosselmeier versicherte seinem Cousin, dass der König ihn für diese Nuss reich entlohnen würde. Anschließend ging er mit dem Hofastronomen nach Hause, um endlich einmal im eigenen Bett schlafen zu können. Die beiden Männer hatten gerade ihre Schlafmützen aufgesetzt, als der Hofastronom wieder ganz wach wurde. „Verehrter Herr Kollege,“ sprach er aufgeregt. „Ein Glücksfall kommt selten allein. Wir haben heute nicht nur die Nuss Krakatuk, sondern auch den jungen Mann zum Aufbeißen der Nuss gefunden. Es ist niemand anderes als der Sohn Ihres Cousins Christoph Zacharias Drosselmeier. Ich werde sofort sein Horoskop erstellen.“ Mit diesen Worten riss er sich die Nachtmütze wieder vom Kopf und begab sich eilig in seine kleine Sternwarte.
Der Sohn des Cousins Drosselmeier war in der Tat ein ansehnlicher junger Mann, der sich noch nie rasiert und noch nie Stiefel getragen hatte. In ganz jungen Jahren hatte er sich zur Weihnachtszeit immer sehr verspielt und unreif gegeben. Die gute Ausbildung durch seinen Vater hatte jedoch bewirkt, dass er recht erwachsen und vernünftig geworden war. An den Weihnachtstagen trug er jetzt einen schönen Anzug in Rot und Gold, dazu einen Degen an der Hüfte und einen Hut unter dem Arm. Sein Haar war kunstvoll gepudert und zu einer schönen Frisur geformt. So gut gekleidet stand er auf dem Nürnberger Weihnachtsmarkt am Verkaufsstand seines Vaters. Dort knackte er für die jungen Mädchen die Nüsse auf. Deshalb nannten diese ihn liebevoll „das schöne Nussknackerlein“. Liebe Kinder, wie ihr selbst erkennen könnt, gibt es in dieser Geschichte jetzt gleich vier Männer, die den Familiennamen Drosselmeier tragen. Zuerst wäre da der Amtsrichter Drosselmeier zu nennen, der zugleich der Patenonkel von Fritz und Marie war und den Kindern das Märchen von der harten Nuss erzählte. Dann gibt es noch den Hofuhrmacher Christian Elias Drosselmeier, der die Nuss Krakatuk suchen sollte. Und zu guter Letzt dessen Cousin Christoph Zacharias Drosselmeier und seinen Sohn, der natürlich auch Drosselmeier wie sein Vater hieß. Das Ganze ist recht verwirrend, aber wenn ihr aufmerksam zuhört, werdet ihr bestimmt alles richtig verstehen.
Der Hofastronom arbeitete die ganze Nacht am Horoskop des jungen Mannes. Am nächsten Morgen unterrichtete er den Hofuhrmacher Drosselmeier über das Ergebnis seiner Nachforschungen in den Sternen. „Die himmlischen Vorzeichen sind günstig, aber wir müssen zwei Dinge unbedingt beachten. Zuerst müssen wir dem jungen Mann einen hölzernen Zopf flechten, der fest mit seinem Unterkiefer verbunden ist. Das wird ihm helfen, auch die härteste Nuss mit den Zähnen aufzubeißen. Ferner müssen wir verschweigen, dass wir nicht nur die Nuss Krakatuk, sondern auch deren Nussknacker gleich mitgebracht haben. Denn der König wird demjenigen die Prinzessin Pirlipat zur Frau geben, der den Zauberbann der Mäusehexe bricht und seiner Tochter die Schönheit wieder zurück gibt. Zu diesem Zweck wird es einen öffentlichen Aufruf an alle jungen Männer des Königreichs geben. Diese sollen sich auf dem Schloss melden und ihr Glück versuchen.“ Dem Puppenmacher Drosselmeier gefiel der Gedanke, dass sein Sohn der Ehemann der Prinzessin Pirlipat und damit irgendwann König werden sollte. Also übergab er den Jüngling in die Obhut des Uhrmachers Drosselmeier. Dieser fertigte den hölzernen Zopf so geschickt an, dass auch die härtesten Nüsse bei den Versuchen aufgebissen werden konnten.
Anschließend begaben sich der Hofuhrmacher Drosselmeier, der Hofastronom und der junge Mann zum Königsschloss, wo sich bereits viele junge Männer versammelt hatten. Sogar einige echte Prinzen waren darunter. Alle wollten die Nuss Krakatuk aufbeißen, um vom König reich belohnt zu werden.
Die beiden Reisenden erschraken nicht schlecht, als sie die Prinzessin Pirlipat zu Gesicht bekamen. Der kleine Körper mit seinen winzigen Händen und Füßen war kaum in der Lage den riesigen, unförmigen Kopf zu tragen. Die hässlichen Gesichtszüge wurden durch einen dichten,weißen Bart verstärkt, der sich um Kinn und Gesicht legte. Pirlipat hatte für die Morde ihres Vaters an den Mäusen bitter bezahlen müssen und sah einfach nur erbärmlich aus.
Zuerst lief alles so ab, wie es der Hofastronom in seinem Horoskop vorausgesehen hatte. Ein Jüngling nach dem anderen biss sich an der Nuss Krakatuk buchstäblich die Zähne aus. Wenn sie halb ohnmächtig weggetragen wurden, flüsterten sie leise: „Das war aber eine harte Nuss!“ Als immer mehr Kandidaten versagten, wurde der König immer verzweifelter. Schließlich versprach er demjenigen die Hand seiner Tochter und die Thronfolge, der den Zauberbann der Mäusekönigin brechen würde. Jetzt schlug die Stunde des jungen Drosselmeier! Als er sich sehr höflich für einen Versuch meldete, verliebte sich die Prinzessin Pirlipat augenblicklich in ihn. Sie wünschte sich so sehr, dass dieser hübsche Jüngling ihr Ehemann werden möge! Der Oberzeremonienmeister reichte ihm würdevoll die Nuss Krakatuk, die der junge Mann ohne zu zögern zwischen seine Zähne legte. Anschließend zog er selbst sehr stark an seinem hölzernen Zopf. Krack – krack! Die Nussschale zerbrach und damit war die Nuss Krakatuk geknackt. Der Jüngling säuberte den Nusskern von den Schalenresten und überreichte ihn mit einer höflichen Verbeugung der Prinzessin Pirlipat. Anschließend begann er mit geschlossenen Augen zurückzugehen, denn er musste sieben Schritte rückwärts tun ohne zu stolpern. Die Prinzessin Pirlipat verschluckte den Kern und das Wunder geschah: Von einer Sekunde zur anderen stand eine bildhübsche, junge Frau vor dem begeisterten Hofstaat. Die Schönheit ihrer himmelblauen Augen wurde nur noch von ihren goldenen Locken übertroffen. Trommeln und Trompeten mischten sich in den lauten Jubel des Volkes. Der König und seine Höflinge tanzten wie bei Pirlipats Geburt wieder auf einem Bein und die Königin wurde erst einmal vor Freude ohnmächtig.
Der gewaltige Lärm brachte den jungen Drosselmeier ziemlich aus der Fassung, während er weiterhin mit geschlossenen Augen rückwärts ging. Er streckte soeben den Fuß zum letzten, siebten Schritt aus, als hinter ihm der Fußboden aufbrach. Häßlich piepend und quiekend erhob sich die Mäusekönigin aus dem Boden, denn sie wollte den Bruch ihres bösen Zauberbanns nicht hinnehmen. Der Jüngling trat versehentlich mit dem Absatz auf ihren Hals und stolperte dabei so stark, dass er beinahe gestürzt wäre. Mit Entsetzen sahen der Hofuhrmacher Drosselmeier und der Hofastronom, wie sich die Gestalt des jungen Mannes von einer Sekunde zur anderen veränderte. Auf einem zusammengeschrumpften Körper saß jetzt ein viel zu großer, hässlicher Kopf mit hervorstehenden Augen und einem entsetzlich gähnenden Maul. Der hölzerne Zopf war fest mit seinem Unterkiefer verbunden und konnte nicht mehr entfernt werden. Der junge Mann sah genauso aus wie heutzutage die hölzernen Nussknacker aus der Spielzeugstadt Nürnberg.
Frau Mauserinks war vom Absatz des jungen Drosselmeier tödlich verletzt worden und wälzte sich sterbend in ihrem eigenen Blut. Dabei piepste die Mäusekönigin mit letzter Kraft die folgenden Worte: „Oh, Krakatuk, du harte Nuss, an der ich nun elend sterben muss. Hi, hi, das Nussknackerlein wird bald auch des Todes sein. Mein Söhnlein mit den sieben Kronen wird’s dem Nussknacker bald lohnen. Er wird seine Mutter rächen fein, an dir, du schönes Nussknackerlein!“ Nach dieser Prophezeiung starb die Mäusekönigin und wurde vom königlichen Ofenheizer fortgebracht. Böse Taten bringen immer nur neues Elend hervor und das galt für die Mäusekönigin genauso wie für den König auf seinem Schloss und alle anderen Menschen auf der Welt. Deshalb sollte man böse Taten möglichst vermeiden. Nur dann kann man sich darauf freuen, dass das Christkind und der Weihnachtsmann am Heiligen Abend schöne Geschenke unter den Weihnachtsbaum legen. Es lohnt sich also zu den guten und braven Kindern zu gehören! Doch hören wir jetzt, wie es mit dem Märchen von der harten Nuss weitergeht.
Im allgemeinen Freudentaumel hatte niemand auf den jungen Drosselmeier geachtet. Aber die Prinzessin erinnerte ihren Vater sofort an den schönen Jüngling, den sie jetzt unbedingt auch heiraten wollte. Als der unglückliche junge Mann in seiner hässlichen Gestalt vor die Prinzessin trat, schlug diese entsetzt die Hände vor das Gesicht: „Schafft mir diesen abscheulichen Nussknacker aus den Augen!“, schrie sie laut. Daraufhin packten die Wachsoldaten den jungen Drosselmeier unter den Armen und warfen ihn hinaus vor das Schlosstor. Der König war wütend darüber, dass man ihm einen Nussknacker als Schwiegersohn andienen wollte und schob die ganze Schuld wieder einmal auf den Hofuhrmacher Drosselmeier und den Hofastronomen. Zur Strafe verbannte er beide auf Lebenszeit aus ihrer Heimatstadt Nürnberg. Das alles hatte nun nicht in dem Horoskop des jungen Mannes gestanden! Aber der Hofastronom ließ sich nicht davon abhalten erneut die Sterne zu befragen. Das Ergebnis verkündete er folgendermaßen: „Der junge Drosselmeier kann doch noch Prinz und König werden. Um dies zu erreichen, muss er trotz seiner Hässlichkeit das Herz einer Dame gewinnen. Zuvor muss er jedoch den Sohn der Mäusekönigin Mauserinks im Duell mit dem Schwert töten. Dieser neue Mausekönig hat sieben Köpfe wie das Haupt der Medusa in den alten griechischen Sagen. Er ist das Ergebnis einer bösen Zauberei und soll ihren Tod rächen“.
Jetzt, liebe Kinder, wisst ihr, warum Nussknacker so hässlich sind und warum die Leute manchmal stöhnen: „Das war aber eine harte Nuss!“ Damit beendete der Patenonkel Drosselmeier seinen Vortrag des Märchens von der harten Nuss im Haus der Familie Stahlbaum. Marie meinte, dass die Prinzessin Pirlipat ein sehr undankbares Mädchen sei. Fritz hingegen war sich sicher, dass der Nussknacker mit dem Mausekönig erfolgreich abrechnen werde. Er könne seine hübsche Gestalt wiedererlangen. Dazu müsse er sich nur als tapferer Kerl erweisen.