Marie und Nussknacker vor der Leiter zum Puppenreich Marie und Nussknacker vor der Leiter zum Puppenreich

 

10) Das Puppenreich:

 

Liebe Kinder, ihr wisst natürlich alle, dass man als Kind nicht einfach mitgehen darf, wenn ein fremder Mann so etwas von euch verlangen sollte. Ihr würdet vielmehr schnell zu euren Eltern zurück laufen oder einen Polizisten, Lehrer oder eure Betreuerin verständigen. Es gibt auch böse Männer nach Art des Mausekönigs auf unseren Straßen. Deshalb müsst ihr immer vorsichtig sein.

 

Die kleine Marie Stahlbaum kannte diese Verhaltensregel für Kinder natürlich sehr genau, aber der Nussknacker war inzwischen ihr Freund geworden. Sie hatte ihm in der Schlacht gegen die Mäuse das Leben gerettet. Und er wiederum hatte die kleine Marie mit dem Schwert in der Hand gegen den bösen Mausekönig beschützt. Sie wusste, dass er sie lieb hatte und ihr niemals etwas Böses antun würde. Im Übrigen war sie doch sehr neugierig darauf das Puppenreich kennenzulernen. Dort war der Nussknacker ein echter Prinz und sollte bald zum König gekrönt werden. Der Pate Drosselmeier hatte im Märchen von der harten Nuss ja bereits davon erzählt. „Ich begleite Sie gerne, lieber Herr Drosselmeier,“ sprach sie also, „aber der Weg darf nicht zu weit sein und es darf nicht zu lange dauern. Immerhin habe ich noch gar nicht ausgeschlafen“. „Einverstanden,“ erwiderte Nussknacker fröhlich. „In diesem Fall wähle ich einen kürzeren, aber auch etwas beschwerlichen Weg in mein Königreich.“ Er lief die Treppe hinunter in den Hausflur, in dem ein alter, großer Kleiderschrank stand. Dieser diente als Garderobe für die Mäntel der Familie Stahlbaum und ihrer Gäste. Marie folgte dem Nussknacker und sah mit Erstaunen, dass die Türen des Kleiderschranks weit geöffnet waren. Das war sehr ungewöhnlich, denn zur Nachtzeit war der Schrank sonst immer verschlossen. Der Nussknacker kletterte sehr geschickt an den Leisten und Verzierungen hinauf in das Innere des Schranks hinein. Über einige Schachteln hinweg erreichte er den Gürtel eines schweren Wintermantels, den Maries Vater auf seinen Reisen trug. Als der Nussknacker fest an einem der beiden Gürtelenden zog, traute Marie ihren eigenen Augen nicht mehr. Eine zierliche Leiter aus Zedernholz glitt aus dem Ärmel des Mantels herab bis auf den Zimmerboden. Gleichzeitig schrumpfte Marie so sehr zusammen, dass sie nicht mehr größer als der Nussknacker war. „Steige jetzt bitte die Leiter hinauf, liebste Marie“, bat der Nussknacker sehr höflich. Marie musste sich erst einmal daran gewöhnen, dass sie jetzt nicht mehr größer als eine ihrer Puppen war. Aber dann nahm sie ihren Mut zusammen und kletterte die Leiter hinauf. Der Nussknacker folgte dicht hinter ihr. Im Inneren des Ärmels war es sehr dunkel, aber schließlich erreichte sie den Kragen des Mantels. Sie wollte soeben hinaus sehen, als sie von einem strahlenden Licht geblendet wurde. Als sie wieder sehen konnte, stand sie mit dem Nussknacker gemeinsam auf einer herrlich duftenden Wiese. Das Gras funkelte, als ob unzählige Juwelen darin verborgen waren. „Wir befinden uns auf der Kandiszuckerwiese“, erklärte Nussknacker, „aber wir wollen hier nicht bleiben, sondern das Tor dort hinten passieren“.

Erst jetzt bemerkte Marie eine Mauer am Ende der Wiese, in die man ein großes Tor eingelassen hatte. Es schien aus weißem, braunem und rosinenfarbenem Marmor gebaut zu sein. Aber aus der Nähe erkannte Marie, dass das Mauerwerk aus Mandeln, Rosinen und Nüssen bestand. Dieses Tor nannte man deshalb das Mandel- und Rosinentor; manche Leute nannten es aber auch ziemlich respektlos die Studentenfutterpforte. Auf einem Balkon über dem Tor entdeckte Marie sechs kleine Affen in roten Jacken, die mit ihren Flöten sehr schön musizierten. Der Nussknacker und Marie gingen durch das Tor und erreichten den sogenannten Weihnachtswald. An den Zweigen der dunklen Bäume hingen goldene und silberne Früchte. Die Baumstämme und Äste waren mit bunten Bändern und Blumensträußen geschmückt, wie man sie sonst nur auf einer Hochzeit zu sehen bekommt. Wenn der Wind durch die Zweige strich, roch Marie den angenehmen Duft von Orangen. Das Rauschgold in den Zweigen knisterte und knatterte dazu wie eine schöne Musik. „Ach wie schön ist es hier“, rief Marie aus. „Können wir uns hier nicht noch etwas ausruhen?“ Als Nussknacker zustimmend nickte und in die Hände klatschte, kam eine Gruppe von Schäfern und Schäferinnen aus dem Wald hervor. Zu diesen gesellten sich noch einige Jäger und Jägerinnen in grünen Kostümen, die einen goldenen Sessel für Marie mitgebracht hatten. Nachdem Marie sich in den Sessel gesetzt hatte, tanzten die Schäfer und Schäferinnen ein Ballett, wozu die Jägerinnen und Jäger ganz ordentlich in ihre Jagdhörner bliesen. Der Nussknacker war mit der gebotenen Leistung jedoch nicht zufrieden. „Entschuldige bitte den miserablen Tanz dieser Leute, liebe Marie“, sagte der Nussknacker. „Sie gehören zum Drahtballett und können immer nur dieselben Tanzfiguren aufführen. Und dass die Jäger und Jägerinnen so schwach auf ihren Jagdhörnern bliesen, hat auch seine Gründe. Die süßen Früchte hängen zwar über ihnen in den Weihnachtsbäumen, aber leider so hoch, dass sie sie nicht erreichen können. Und das macht sie traurig“. „Ach, es war doch alles ganz hübsch und hat mir sehr gut gefallen“, erwiderte Marie freundlich. Dann stand sie auf und folgte dem Nussknacker, der sie einen Bach entlang führte. „Das ist der Orangenbach“, erklärte ihr Nussknacker, „doch abgesehen von seinem schönen Duft kann er sich nicht mit dem Limonadenfluss oder dem Mandelmilchsee vergleichen“. Gleich darauf erreichten sie einen gewaltigen Fluss aus reiner Limonade, die in braungelben Wellen durch das Flussbett strömte. Nicht weit davon entfernt entdeckte Marie einen wesentlich kleineren Fluss, in dem sich eine honiggelbe, zähe Masse langsam fortbewegte. An diesem Gewässer lag ein nettes, kleines Dorf mit Dorfkirche, Häusern und Scheunen. Alle Gebäude besaßen dunkelbraune Mauern und dazu goldene Dächer. Einige Mauern sahen aber auch so aus, als habe jemand Zitronat und Mandelkerne darauf geklebt. „Das ist Pfefferkuchenheim, das am Honigfluss liegt“, sagte der Nussknacker. „In diesem Dorf wohnen ganz hübsche Leute, aber sie sind allesamt sehr schlecht gelaunt. Die ganze Bevölkerung leidet ständig unter Zahnschmerzen, weil man dort viel zu viele Süßigkeiten nascht und sich nicht oft genug die Zähne putzt. Deshalb wollen wir diesen Ort besser gar nicht erst besuchen“. Nachdem sie ein Stück gegangen waren, bemerkte Marie eine kleine Stadt, die aus bunten, durchsichtigen Häusern bestand und die ihr sehr gut gefiel. Auf dem Marktplatz angelangt standen sie unter vielen Zwergen, die hoch bepackte Lastkarren untersuchten und entluden. Dabei herrschte ein ziemlicher Lärm. Die Wagenladungen bestanden offensichtlich aus bunt gefärbtem Papier und Schokoladentafeln. „Wir sind jetzt in Bonbonhausen,“ erklärte Nussknacker der kleinen Marie. „Vor einiger Zeit bedrohte eine ganze Armee von Mücken dieses kleine Volk. Deshalb schützen sie die Dächer ihrer Häuser jetzt mit dickem Papier und bauen Wehrmauern aus Schokolade um ihre Stadt herum. Aber wir wollen unsere knappe Zeit nicht mit den kleinen Städten und Dörfern meines Königreiches verschwenden – zur Hauptstadt, liebe Marie, zur Hauptstadt!“

 

Der Nussknacker beschleunigte seine Schritte, so dass das kleine Mädchen Mühe hatte ihm zu folgen. Bald darauf erfüllte ein herrlicher Rosenduft die Luft und auch das Licht schimmerte leicht rosa. Als Ursache hierfür entdeckte Marie einen großen See mit rosenrot glänzendem Wasser, auf dem silberweiße Schwäne schwammen. Sie trugen goldene Halsbänder und sangen gemeinsam wunderschöne Lieder. Dazu tanzten glänzende Fische, die immer wieder aus dem Wasser auf und nieder tauchten. Marie musste wieder an den letzten Heiligen Abend denken, an dem sie ihrem Bruder Fritz von einem derartigen See erzählt hatte. „Ach, das ist doch der See, den der Patenonkel Drosselmeier für uns bauen wollte“, rief sie begeistert und klatschte dabei in die Hände. „Und ich werde das Mädchen sein, dass die Schwäne streichelt und sie mit Marzipan füttert“. Nussknacker lächelte so spöttisch, wie es Marie noch niemals zuvor an ihm bemerkt hatte. Dann erwiderte er: „So etwas kann dein Patenonkel niemals als Weihnachtsgeschenk erschaffen. Du selbst könntest das schon viel eher, liebe Marie. Aber darüber wollen wir jetzt nicht weiter nachdenken. Wir werden uns stattdessen gleich auf dem Rosensee einschiffen und die Hauptstadt besuchen.“

 

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