Nussknacker Der Nussknacker

3) Der Schützling:

 

Eigentlich wollte Marie sich deshalb noch nicht vom Weihnachtstisch trennen, weil sie ein weiteres Geschenk entdeckt hatte. Die neuen Husaren ihres Bruders Fritz hatten nebeneinander dicht vor dem Weihnachtsbaum gestanden und waren dann zum Spielen auf den Fußboden ausgerückt. Hinter den Spielzeugsoldaten stand ein ansehnlicher, kleiner Mann, der jetzt sichtbar wurde. Er wartete still und bescheiden darauf, dass er an die Reihe kommen werde. Gegen sein Aussehen war vieles einzuwenden. Der etwas lange, kräftige Oberkörper passte nicht so recht zu den kurzen, dünnen Beinen. Auch war sein Kopf im Verhältnis zum Körper viel zu groß. Allerdings verbesserte er sein Aussehen durch eine elegante Kleidung, die auf einen Mann von Bildung und Stil hinwies. Er trug nämlich eine violett glänzende, kurze Husarenjacke, die mit weißen Schnüren und Knöpfen verziert war. Dazu eine ebenfalls weiße Hose und die schönsten Stiefel, die jemals ein Soldat getragen hatte. Diese saßen so knapp angegossen an den Beinen, als wären sie lediglich darauf gemalt. Merkwürdigerweise trug er einen hölzernen Hebel, der ihm hinten aus dem Nacken ragte und der Marie an einen zusammengelegten, schmalen Mantel erinnerte. Ergänzt wurde diese Garderobe durch eine Bergmannsmütze. Marie erinnerte sich daran, dass der Pate Drosselmeier für gewöhnlich auch einen schlechten Mantel und eine sehr häßliche Mütze trug. Dennoch war er den Kindern gegenüber immer ein lieber, gutherziger Patenonkel. Allerdings hätte er in der Kleidung des kleinen, hölzernen Mannes längst nicht so gut ausgesehen wie dieser. Je länger das Mädchen den kleinen Mann ansah, desto mehr erkannte sie die Gutmütigkeit, die auf seinem Gesicht lag. In den hellgrünen, etwas zu großen Augen sah sie nichts außer Freundschaft und Wohlwollen. Um sein Kinn legte sich ein gut gepflegter Bart aus weißer Baumwolle, der den lächelnden, roten Mund erst richtig zur Geltung brachte. "Ach!", rief Marie endlich aus,"ach lieber Vater, wem gehört denn der allerliebste Mann dort am Baum?" "Der", antwortete der Vater,"der soll für euch alle fleißig arbeiten und für euch die harten Nüsse aufbeißen. Und er gehört Luise genauso wie Fritz und dir." Mit diesen Worten nahm der Vater den hölzernen Mann vom Tisch und schob dessen Hebel nach hinten in die Höhe. Der kleine Mann öffnete daraufhin weit den Mund, so dass zwei Reihen spitzer Zähne sichtbar wurden. Marie legte auf Wunsch ihres Vaters eine Nuss hinein, und – knack - hatte der Mann diese zerbissen. Die Nussschalen fielen ab und Marie hatte den süßen Nusskern in der Hand. Jetzt wurde ihr klar, dass der zierliche Mann aus dem Geschlecht der Nussknacker stammte. Sie jubelte vor Freude, woraufhin der überraschte Vater sprach: "Da dir, liebe Marie, der neue Nussknacker so gut gefällt, soll er künftig unter deinem besonderen Schutz stehen. Luise und Fritz können seine Dienste aber genauso in Anspruch nehmen wie du selbst."


Marie nahm den Nussknacker sogleich in den Arm und ließ ihn Nüsse knacken. Dabei wählte sie nur die kleinsten Nüsse aus, denn sie wollte das Männlein schonen. Mit weit aufgesperrtem Mund sah der kleine Mann ohnehin nicht gerade schön aus. Auch ihre Schwester Luise ließ den Nussknacker Nüsse knacken, was diesem zu gefallen schien. Fritz war währenddessen vom Spielen mit seinen neuen Soldaten müde geworden. Als er das Knacken der Nüsse hörte, sprang er zu seinen Schwestern herüber und lachte herzlich über den lustigen, kleinen Mann. Dieser hatte jetzt sehr viel Arbeit, da alle drei Kinder in einem fort Nüsse knacken wollten. Fritz schob dem Nussknacker immer nur die größten, härtesten Nüsse in den Mund. Aber dann machte es - krack - krack - und drei gebrochene Zähne fielen aus dem Mund des kleinen Mannes. Gleichzeitig wurde sein ganzer Unterkiefer lose und wackelig. "Ach, mein armer, lieber Nussknacker!", rief Marie laut und nahm diesen ihrem Bruder Fritz aus den Händen. "Das ist nur ein dummer, unfähiger Bursche", sprach Fritz. "Er will ein Nussknacker sein und hat noch nicht einmal ein starkes Gebiss. Von seiner Arbeit versteht er wohl auch nichts. Gib' ihn mir nur zurück, Marie! Er soll für mich so lange Nüsse knacken, bis er die restlichen Zähne und das ganze Kinn auch noch verliert. Wen interessiert das schon?" "Nein, nein", widersprach Marie weinend, "du bekommst ihn nicht, meinen lieben Nussknacker. Sieh' nur, wie er mich so wehmütig ansieht und mir seinen wunden Mund zeigt! Aber du bist ein hartherziger Mensch - du schlägst deine Holzpferde und lässt sogar zur Strafe einen Spielzeugsoldaten totschießen". "Das muss so sein, das verstehst du nicht", rief Fritz. "Aber der Nussknacker gehört mir genauso wie dir, also gib' ihn mir jetzt zurück!" Marie begann heftig zu weinen. Dann wickelte sie den kranken Nussknacker schnell in ihr Taschentuch ein. Währenddessen kamen die Eltern und der Patenonkel Drosselmeier herbei, um den Streit zwischen den beiden Kindern zu schlichten. Zu Maries Leidwesen schlug sich der Patenonkel auf die Seite ihres Bruders. Der Vater sagte jedoch: "Ich habe den Nussknacker ausdrücklich unter den Schutz von Marie gestellt. Wie ich sehe, benötigt er diesen gerade jetzt, wo wir hier alle versammelt sind. Also hat Marie darüber zu entscheiden, was mit ihm geschehen soll, ohne dass jemand anders mitzubestimmen hat. Im Übrigen wundert es mich sehr, dass Fritz einen im Einsatz erkrankten Mann noch weiter Dienst verrichten lassen will. Als guter Offizier sollte er eigentlich wissen, dass man Verwundete niemals in Reihe und Glied stellt, oder etwa nicht?" Fritz schämte sich sehr und schlich schnell fort an die andere Seite des Tisches, ohne sich weiter um den Nussknacker und die Nüsse zu kümmern. Dort hatten seine neuen Husaren ihr nächtliches Lager aufgeschlagen und genügend Wachen aufgestellt.


Nachdem Marie die verlorenen Zähne des Nussknackers aufgesammelt hatte, verband sie dessen wackeliges Kinn mit einem weißen Band ihres Kleides. Der arme Kleine sah sehr blass und erschrocken aus, während sie ihn wie ein Baby in den Armen wiegte und in einem der neuen Bilderbücher las. Der Pate Drosselmeier lachte ständig über ihr Verhalten und fragte wiederholt, warum ihr denn dieser grundhäßliche, kleine Mann so sehr am Herzen liege. Darüber wurde Marie entgegen ihrer sonstigen lieben Art sehr böse. Sie erinnerte sich wieder daran, wie sie das Aussehen von Patenonkel Drosselmeier und Nussknacker verglichen hatte. Also sprach sie sehr ernst: "Lieber Onkel Drosselmeier, du könntest dich genauso hübsch ankleiden wie mein Nussknacker und genauso schöne Stiefel tragen. Aber wer weiß, ob du darin auch so hübsch aussehen würdest wie er." Marie verstand gar nicht, warum ihre Eltern so laut auflachten und warum der Patenonkel solch eine rote Nase bekam. Auch lachte er gar nicht so hell mit wie zuvor. Sein Verhalten musste wohl eine besondere Ursache haben.

 

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