nussknacker und mausekönig - Duell Der Zweikampf in der Nacht - wer wird siegen?

9) Der Sieg:

 

Wenige Tage später wurde Marie nachts durch seltsame Geräusche aus dem Schlaf geweckt. Der Mond schien hell in das Kinderzimmer, aus dessen einer Ecke ein seltsames Poltern zu hören war. Irgendetwas schien die Zimmerwand zu durchbrechen, denn kleine Steinsplitter und Mörtel wurden über den Holzboden verstreut. Gleichzeitig pfiff und quiekte jemand recht grässlich. Marie kannte dieses Geräusch aus der Schlacht zwischen den Puppen und den Mäusen noch ganz genau.

Oh, Gott, die Mäuse kommen wieder zurück!“, rief Marie erschrocken und wollte aus dem Bett springen, um ihre Mutter zu wecken. Aber da entdeckte sie den Mausekönig, dessen dicker, hässlicher Körper sich soeben durch ein Loch in der Wand hervorarbeitete. Seine vierzehn Augen und seine sieben Kronen funkelten drohend im Mondlicht. Vor Entsetzen konnte das kleine Mädchen sich nicht mehr regen und sah erstarrt zu, wie der Mausekönig auf den Nachttisch neben ihrem Bett sprang.

Hi, hi , hi, du musst mir deine Zuckererbsen und dein Marzipan geben, kleines Ding, denn sonst zerbeiße ich deinen Nussknacker, deinen Nussknacker!“ Dabei knirschte der Mausekönig so hässlich mit den Zähnen und pfiff und fauchte so drohend, dass Marie vor Furcht die Bettdecke bis zur Nasenspitze hochzog. Anschließend verschwand der Bösewicht wieder durch das Loch in der Wand.

Am nächsten Morgen saß Marie ganz blass und verstört am Frühstückstisch. Aber sie traute sich nicht ihren Eltern oder ihrer großen Schwester Luise zu erzählen, was in der letzten Nacht geschehen war. Niemand würde ihr glauben und man würde sie nur auslachen. Auf Hilfe gegen den bösen Mausekönig konnte sie also nicht rechnen. Ihr wurde klar, dass sie ihre Süßigkeiten opfern musste, um das Leben ihres lieben Nussknackers zu retten. Deshalb legte sie all ihre Zuckererbsen und ihr gesamtes Marzipan vor die Leiste des Glasschranks im Wohnzimmer, bevor sie schlafen ging. „Ich weiß nicht, wie auf einmal Mäuse in unser Wohnzimmer eindringen konnten,“ sagte die Mutter am nächsten Morgen kopfschüttelnd. „Sieh' nur Marie, diese Mäuse haben dir alle deine Süßigkeiten aufgefressen.“ Tatsächlich war es so. Das Marzipan hatte dem Mausekönig offensichtlich nicht geschmeckt, denn es lag noch auf dem Fußboden. Allerdings hatte der Bösewicht es so mit seinen scharfen Zähnen angenagt, dass es in den Müll geworfen werden musste. Marie machte sich nichts mehr aus den verlorenen Süßigkeiten, denn sie glaubte ihren Nussknacker hierdurch gerettet zu haben.

Liebe Kinder, wenn man sich erst einmal erpressen lässt, dann wird das immer wieder geschehen und niemals enden. So erging es auch der kleinen Marie, denn in der nächsten Nacht saß der Mausekönig wieder auf ihrem Nachttisch. Seine Augen funkelten noch böser als zuvor, während er drohend dicht neben ihren Ohren fauchte und zischte. Marie fürchtete sich beinahe zu Tode. „Hi, hi , hi, du musst mir all deine Zuckerpüppchen und Tragantfiguren geben, kleines Ding, denn sonst zerbeiße ich deinen Nussknacker, deinen Nussknacker!“ Nach dieser Drohung verschwand der Mausekönig erneut in seinem Mauerloch.

Zur damaligen Zeit besaßen die Mädchen zierliche Figuren, die aus einer Zuckermasse geformt und sehr hübsch anzusehen waren. Derartige Figuren wurden auch aus sogenanntem Tragant hergestellt. Dieses Material bestand aus Mandeln und Zucker. Es war sehr hart und nicht dazu bestimmt gegessen zu werden. Die Herstellung dieser schön bemalten Figuren war so teuer, dass nur Kinder aus wohlhabenden Familien damit beschenkt werden konnten. Die kleine Marie Stahlbaum gehörte auch zu diesen glücklichen Kindern und besaß eine wirklich schöne Sammlung dieser Figuren. Mit wehmütigen Blicken betrachtete sie daher den Schäfer und dessen Herde mit milchweißen, niedlichen Schafen. Ein aufmerksamer Hirtenhund bewachte die kleine Herde. Dazu kamen zwei Briefträger mit Briefen in der Hand und vier hübsche Liebespaare, die elegant gekleidet in einer großen Schaukel saßen. Aus der Jungfrau von Orleans machte sich Marie genauso wenig wie aus dem Händler für Schafswolle, der auf den seltsamen Namen Pachter Feldkümmel hörte. Die Jungfrau und der Händler waren damals sehr berühmt, aber heute kennt sie kaum noch jemand. Ganz hinten in der Ecke des Schrankfachs saß Maries Liebling. Es war ein kleines Kind mit roten Wangen, das ganz allerliebst anzusehen war. Marie schossen vor Schmerz die Tränen in die Augen. „Ach, lieber Herr Drosselmeier,“ rief sie schluchzend. „Ich will wirklich alles tun um Sie zu retten, aber das ist doch sehr hart!“ Der Nussknacker blickte sie ganz traurig und mitfühlend an. Dann sah sie vor ihrem geistigen Auge das gierige Maul des Mausekönigs, das mit seinen scharfen Zähnen über dem Nussknacker schwebte. Also beschloss sie ihre Lieblinge zu opfern. Bevor sie schlafen ging, stellte sie all ihre Zuckerpüppchen und Tragantfiguren vor die Leiste des Glasschranks im Wohnzimmer. Sie küsste den Schäfer, die Schäferin und die kleinen Schafe sehr zärtlich zum Abschied. Zuletzt holte sie das kleine Kind heraus und setzte es ganz nach hinten in die letzte Reihe. Die Jungfrau von Orleans und Pachter Feldkümmel mussten in der vordersten Reihe auf den Mausekönig warten.

Nein, das ist jetzt aber wirklich zu ärgerlich!“, rief Maries Mutter am nächsten Morgen erzürnt. „Irgendeine große Maus haust im Glasschrank und hat alle Zucker- und Tragantpüppchen unserer lieben Marie zerbissen.“ Der Mausekönig hatte tatsächlich keinerlei Gnade walten lassen und alle Figuren zerbissen. Auch das kleine Kind mit den roten Wangen war unter seinen Opfern. Marie musste wieder weinen, aber insgeheim dachte sie: „Was macht das schon aus, wenigstens ist mein lieber Nussknacker jetzt gerettet.“ Beim Abendessen beriet die ganze Familie, wie man die böse Maus aus dem Glasschrank vertreiben oder fangen könne. Auch der Pate Drosselmeier war anwesend. „Der Bäcker in unserer Straße besitzt einen großen Kater, der vortrefflich Mäuse zu fangen weiß“, berichtete Fritz. „Der wird der Maus den Kopf abbeißen, auch wenn es Frau Mauserinks oder der Mausekönig höchstpersönlich sein sollte“. „Und mir dabei die halbe Wohnungseinrichtung zerstören“, fiel die Mutter lachend ein. „Der Kater wird über alle Tische und Stühle springen und mir das gesamte Küchengeschirr zerbrechen.“ „Aber nein, liebe Mutter,“ erwiderte Fritz. „Der Kater des Bäckers ist wirklich ein geschicktes Tier. Niemand anderes kann so geschickt auf einem spitzen Dach herumspazieren wie er.“ „Bloß keinen Kater zur Nachtzeit“, bat Maries Schwester Luise, die keine Katzen leiden konnte. „Eigentlich finde ich die Idee mit dem Kater ganz gut,“ sprach der Vater nachdenklich, „aber vielleicht ist es doch besser, wenn wir eine große Mäusefalle aufstellen. Haben wir denn so etwas im Haus?“ Die Mutter versicherte, dass derartige Fallen nicht vorhanden waren. „Dann kann der Patenonkel Drosselmeier ja welche bauen“, rief Fritz fröhlich in die Runde. „Immerhin hat er sie ja erfunden“. Alle lachten herzlich und der Amtsrichter Drosselmeier ließ sogleich einige Mäusefallen aus seiner Wohnung durch einen Boten herbeischaffen. Fritz und Marie mussten sofort wieder an das Märchen von der harten Nuss denken, das ihre Fantasie beflügelte. Als die Köchin den Speck für die Mäusefallen auf dem Herd briet, zitterte die kleine Marie vor Aufregung. „Ach, Frau Königin“, rief sie der Haushälterin am Herd zu. „Hüten Sie sich vor der Frau Mauserinks und ihrer Familie!“ Ihr Bruder Fritz zog daraufhin seinen Spielzeugsäbel. „Der Mausekönig soll nur kommen!“, knurrte er grimmig. „Ich werde ihn mit meinem Säbel in zwei Hälften spalten“. Als Kommandeur seiner Spielzeugsoldaten erschien es ihm ratsam, seiner kleinen Schwester und seinen Truppen Mut zu machen. Gegen ihn als Feldherrn sollte der Mausekönig die Schlacht nicht gewinnen können! Unter dem Herd in der Küche der Familie Stahlbaum blieb jedoch alles ruhig. Als Drosselmeier den gebratenen Speck an einem Faden in den Mäusefallen befestigte, warnte Fritz ihn vorsorglich: „Nimm' dich in acht, dass dir der Mausekönig keinen Streich spielt, Onkel Drosselmeier!“

Ach, liebe Kinder, wie furchtbar erging es der kleinen Marie in der folgenden Nacht! Eiskalt lief etwas auf ihrem Arm hin und her, dann legte es sich rau und ekelhaft auf ihre Wange, um ihr schließlich ins Ohr zu piepen und zu quieken. Der Mausekönig saß im Bett auf ihrer Schulter! Mit gebleckten Zähnen zischte er der vor Angst erstarrten Marie ins Ohr: „Zisch aus, zisch aus, ich gehe nicht ins Haus, ich gehe nicht zum Speck, nehmt ihn ruhig wieder weg! Ich werde nicht gefangen, zisch aus, zisch aus, gib' heraus all deine Bilderbücher und dein neues Kleid, sonst hast du keine Ruh! Dein Nussknacker wird sonst zerbissen, das kannst du ruhig wissen!“

Am nächsten Morgen sah Marie ganz blass und verstört aus. Verzweiflung und Ratlosigkeit erfüllten ihr kleines Herz. „Diese böse Maus ist bisher nicht in die Falle gegangen,“ stellte ihre Mutter fest. „Wenn es nicht anders geht, dann soll Fritz den Kater des Bäckermeisters herbeiholen. Wir werden die Maus schon vertreiben!“ Als Marie wieder alleine im Wohnzimmer war, trat sie vor den Glasschrank und sprach schluchzend zu ihrem Nussknacker: „Ach, lieber Herr Drosselmeier, ich weiß nicht, wie ich Sie retten soll. Auch wenn ich mein neues Kleid und meine Bilderbücher dem Mausekönig überlasse, wird Ihnen das nicht helfen. Er wird immer mehr verlangen. Irgendwann habe ich nichts mehr und kann mich nur noch selbst von ihm in Stücke beißen lassen! Ich armes Kind, was soll ich denn jetzt nur tun?“ Als das kleine Mädchen so weinend vor dem Glasschrank stand, bemerkte sie einen roten Fleck am Hals des Nussknackers. Dieser stammte noch aus der Nacht, in der die Schlacht gegen die Mäuse ausgetragen worden war. Marie wusste seit einiger Zeit, dass es sich bei ihrem Nussknacker um den verzauberten Neffen ihres Patenonkels Drosselmeier handelte. Seitdem hatte sie ihn nicht mehr auf den Arm genommen und mit sich herumgetragen, denn sie empfand ihm gegenüber eine gewisse Scheu. Jetzt nahm sie ihn jedoch aus dem Glasschrank und benutzte ihr sauberes Taschentuch, um den Fleck am Hals zu entfernen. Während sie den Nussknacker mit dem Tuch abrieb, begann dieser sich auf einmal zu erwärmen und lebendig zu werden. Marie stellte die Holzpuppe schnell wieder zurück in ihr Fach und wartete darauf, dass der Nussknacker ihr einen Rat gab. „Liebste Marie, was verdanke ich dir doch schon alles! Nein, kein Kleid und keine Bilderbücher sollst du für mich opfern! Verschaffe mir nur ein scharfes Schwert, den Rest werde ich......“ Damit ging dem Nussknacker die Sprache aus und er stand wieder leblos und starr im Schrank. Marie hüpfte vor Freude durch das Wohnzimmer, denn endlich konnte sie dem Nussknacker helfen und gleichzeitig die Erpressung durch den Mausekönig beenden. Doch woher sollte sie ein Schwert für ihren kleinen Helden beschaffen?

 

Marie beschloss, ihren Bruder Fritz als Fachmann für alle militärischen Angelegenheiten ins Vertrauen zu ziehen. Als die Eltern abends eine Theatervorstellung besuchten, setzten sich beide Kinder vor den Glasschrank im Wohnzimmer und berieten sich. Marie berichtete ihrem Bruder noch einmal alle Einzelheiten über den Kampf zwischen ihrem Nussknacker und dem Mausekönig. Nichts erregte Fritz mehr als die Feigheit seiner roten Husaren in der Schlacht zwischen seinen Truppen und den Mäusen. Er fragte seine Schwester noch einmal sehr ernsthaft, ob ihre Schilderung tatsächlich so zutreffend sei. Nachdem Marie ihm dies versichert hatte, stellte er seine feigen Soldaten sofort vor ein Kriegsgericht. Nach einer energischen Strafpredigt schnitt er den roten Husaren einem nach den anderen das Feldzeichen von der Mütze. Jeder sollte ihre bewiesene Feigheit schon an ihrer Uniform erkennen können. Gleichzeitig verbot er ihnen für die Dauer eines Jahres den Gardehusarenmarsch zu blasen. Nachdem er das Strafgericht vollendet hatte, sprach er zu seiner Schwester: „Was das Schwert betrifft, so kann ich dem Nussknacker helfen. Ich habe gestern einen Offizier der gepanzerten Kavallerie in den Ruhestand versetzt, der seinen Säbel folglich nicht mehr benötigt.“ Der betreffende Oberst der Kürassiere verzehrte seine Pension im zweiten Fach von oben bei den Bilderbüchern und Zierfiguren. Dort holte ihn Fritz hervor und nahm ihm den schönen, scharfen Säbel ab. Anschließend hängte er diese Klinge dem Nussknacker um.

 

Voller Angst lag Marie in der folgenden Nacht im Bett und horchte angespannt in die Dunkelheit des Kinderzimmers. Sie hatte vorsorglich beide Türen des Wohnzimmerschranks weit geöffnet, so dass ihr Nussknacker sich frei im gesamten Zimmer bewegen konnte. Die übrige Familie schlief ruhig und fest, aber aus dem Wohnzimmer drangen seltsame Geräusche herauf. Es rumpelte, als ob jemand auf den Möbeln herumsprang. Dann rauschte es immer wieder unheimlich und klirrte metallisch. Plötzlich hörte Marie ein kurzes, lautes Quieken. „Der Mausekönig, der Mausekönig!“, rief Marie entsetzt und sprang aus dem Bett. Mit nackten Füßen lief sie bis zur geschlossenen Zimmertür, aber sie traute sich nicht diese zu öffnen. Im Haus wurde es wieder still. Dann klopfte jemand leise von außen an die Tür und Marie hörte, wie jemand sagte: „Liebe Marie, öffne mir ruhig die Tür, denn alles hat sich zum Guten gewendet!“ Marie erkannte die Stimme des jungen Drosselmeiers. Sie zog schnell noch einen Nachtrock an, bevor sie die Tür öffnete.

Draußen stand ihr Nussknacker. In seiner rechten Hand hielt er das blutverschmierte Schwert; in seiner linken trug er eine brennende Kerze. Als er Marie erblickte, ließ er sich auf sein linkes Knie nieder und sprach sehr feierlich: „Liebste Marie, es war deine Treue, die mir die Kraft gab, mich dem Mausekönig noch einmal zum Kampf zu stellen. Dieser Bösewicht wird dir niemals wieder schaden oder dich bedrohen. Er liegt unten vor dem Glasschrank und wälzt sich sterbend in seinem eigenen Blut. Die Mäusesoldaten seiner Leibwache werden ihn bald fortschaffen. Als Zeichen meines Sieges habe ich dir die sieben Kronen des Mausekönigs mitgebracht.“ Er erhob sich wieder und überreichte Marie die winzigen Kronen, die die ganze Zeit neben ihm im Dunkeln auf dem Fußboden gestanden hatten. Der Nussknacker hatte sie an einer kleinen Uhrenkette befestigt, so dass das Ganze jetzt wie ein Armband aussah. Marie nahm das Schmuckstück freudig entgegen, denn es war sehr kunstvoll gearbeitet und schön anzusehen. „Liebste Marie,“ fuhr der Nussknacker fort, „wenn du mir vertraust und mir die Treppe hinab folgst, werde ich dir eine wunderschöne Märchenwelt zeigen. Bitte, liebe Marie, bitte tue es und folge mir in mein Reich....“

Liebe Kinder, wer durch das Schwert und die Gewalt herrscht, der wird auch durch ein Schwert sterben. So erging es auch dem bösen Mausekönig. Aber wird unsere Marie dem Nussknacker in eine unbekannte Welt folgen? Das erfahrt ihr im nächsten Kapitel unseres Märchens vom Nussknacker und Mausekönig.

 

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