Drosselmeier Drosselmeier

1) Der Weihnachtsabend:

 

Wir schreiben das Jahr 1816 in Berlin. Ein Jahr zuvor war der französische Kaiser Napoleon Bonaparte endgültig gestürzt worden. Es gab damals noch keinen elektrischen Strom und die Leute reisten in Kutschen oder zu Pferd. Die Menschen lasen viele Bücher, denn Fernsehen, Kino und das Internet waren noch unbekannt. Die Kinder saßen nicht vor dem Fernsehgerät, sondern lauschten abends den Märchen, die ihnen ihre Verwandten bei Kerzenlicht vorlasen. Eines dieser Märchen handelt vom "Nussknacker und Mausekönig". Diese Geschichte möchte ich euch, liebe Kinder, heute erzählen.

 

Am vierundzwanzigsten Dezember durften die Kinder des Arztes Doktor Stahlbaum den ganzen Tag über nicht in das Esszimmer ihres Hauses hinein, und schon gar nicht in das anschließende Wohnzimmer. Fritz und Marie saßen den ganzen Tag über in einer Ecke ihres Kinderzimmers. Abends war es schnell dunkel geworden und beide Kinder fürchteten sich ein wenig, denn an diesem besonderen Tag brachte ihnen niemand ein Kerzenlicht. Fritz flüsterte seiner jüngeren Schwester (sie war soeben sieben Jahre alt geworden) ins Ohr, dass er bereits frühmorgens in den verschlossenen Zimmern Geräusche gehört habe. Es rauschte und rasselte und pochte dort leise. Auch sei ein kleiner, dunkler Mann mit einem großen Kasten unter dem Arm über den Flur geschlichen. Er selbst wisse aber sehr gut, dass dies nur ihr Patenonkel Drosselmeier gewesen sein könne. Da klatschte Marie vor Freude in ihre kleinen Händchen und rief: "Ach, was wird der Onkel Drosselmeier wieder Schönes für uns gebastelt haben!"

 

Der Amtsrichter Drosselmeier war bestimmt kein hübscher Mann. Er war klein und mager und hatte viele Falten im Gesicht. Statt des rechten Auges trug er eine schwarze Augenbinde. Da ihm alle Haare ausgefallen waren, ersetzte er diese durch eine schöne, weiße Perücke. Diese war aus Glas und sehr kunstvoll gearbeitet worden. Überhaupt war ihr Patenonkel ein technisch sehr begabter Mann, der sogar Uhren reparieren und bauen konnte. Wenn eine der schönen Uhren im Haus Stahlbaum krank war und nicht läuten konnte, dann riefen ihre Eltern den Patenonkel Drosselmeier zur Hilfe. Dieser nahm dann seine Glasperücke ab und band sich eine blaue Schürze um. Anschließend stach er mit langen, spitzen Instrumenten in die Uhr hinein. Dieser Anblick tat der kleinen Marie ordentlich weh, aber die Uhren wurden hierdurch nicht beschädigt, sondern wieder lebendig. Sie begannen wieder zu schnurren, zu schlagen und zu singen, so dass die ganze Familie sich darüber freuen konnte. Bei jedem Besuch brachte der Patenonkel eine kleine Überraschung für die Kinder mit. Manchmal war es eine kleine Puppe, die lustig die Augen verdrehte und sich ganz komisch verbeugen konnte. Oder eine Dose, aus der plötzlich ein Vögelchen hervorsprang und laut piepsend mit den Flügeln schlug. Oder etwas ganz anderes. Jedes Jahr zu Weihnachten bastelte Drosselmeier für seine Patenkinder ein ganz besonderes Werk, wobei er viel Zeit und Mühe aufwenden musste. Deshalb bewahrten die Eltern diese mechanischen Kunstwerke auch sehr sorgfältig auf, sobald der heilige Abend und die Bescherung der Kinder vorbei waren.

 

"Ach, was wird der Onkel Drosselmeier wieder Schönes für uns gebastelt haben", rief nun Marie; ihr Bruder Fritz meinte darauf, es könne diesmal wohl nichts anderes sein als eine Ritterburg, in der allerlei Soldaten in schönen Uniformen herummarschierten und exerzierten. Dann kämen andere Soldaten und versuchten die Burg zu erobern. Die Verteidiger der Burg würden daraufhin mit Kanonen auf die Angreifer schießen, so dass es ordentlich brauste und knallte.

"Nein, nein", unterbrach Marie ihren Bruder Fritz, "Onkel Drosselmeier hat mir von einem blauen See erzählt, auf dem wunderschöne Schwäne mit goldenen Halsbändern schwimmen und die hübschesten Lieder singen. Dann kommt ein kleines Mädchen aus dem Garten an den See. Das Mädchen lockt die Schwäne heran und füttert sie mit süßem Marzipan." "Schwäne fressen aber kein Marzipan", stellte Fritz trocken fest, "und einen vollständigen Garten kann Onkel Drosselmeier auch nicht nachbauen. Eigentlich nutzen uns seine Spielsachen nur wenig, denn sie werden uns nach dem Heiligen Abend gleich wieder weggenommen. Da sind mir die Geschenke von Papa und Mama dann doch viel lieber. Wir dürfen sie behalten und können damit machen, was wir wollen". Nun rieten die Kinder hin und her, was man ihnen wohl dieses Jahr schenken würde. Marie meinte, dass Mamsell Trudchen (ihre große Puppe) ständig ungeschickter würde und sich deshalb verändere. Sie falle andauernd auf den Fußboden und bekäme hierdurch hässliche Flecken im Gesicht und schmutzige Kleider. Alles Ausschimpfen würde nichts helfen. Auch habe Mama gelächelt, als Marie sich über den kleinen Sonnenschirm ihrer Freundin Grete so gefreut habe. Fritz stellte fest, dass er ein neues Holzpferd für seinen Reitstall benötige. Im Übrigen fehle es seiner Spielzeugarmee gänzlich an berittenen Soldaten, der sogenannten Kavallerie. Dies sei seinem Vater sehr wohl bekannt. So wussten die Kinder sehr wohl, dass ihnen ihre Eltern allerlei schöne Weihnachtsgeschenke eingekauft hatten, die sie jetzt gerade im Wohnzimmer aufstellten. Ihre älteste Schwester Luise erinnerte Fritz und Marie daran, dass das Christkind mit freundlichen Kinderaugen dabei half und ihnen mit seinen Weihnachtsgaben jedes mal viel Freude bereiten würde. Die Kinder müssten sich selbst gar nicht so viel wünschen, denn das Christkind sei über ihre Wünsche bestens informiert und werde die Eltern bei ihren Einkäufen stets anleiten. Die Kinder müssten gar nicht an Weihnachtsgeschenke denken, sondern nur still und fromm abwarten, was ihnen beschert worden sei. Die kleine Marie wurde ganz nachdenklich, aber Fritz murmelte vor sich hin: "Ein Holzpferd und neue Kavallerie hätte ich trotzdem gerne."

Es war ganz dunkel geworden. Fritz und Marie, fest aneinander gerückt, wagten kein Wort mehr zu reden. Sie glaubten, dass etwas mit Flügeln im Dunkeln durch das Haus schwirrt und aus der Ferne eine wunderschöne Musik zu hören sei. Ein heller Lichtkegel streifte die Wand entlang. Und da wussten die Kinder, dass das Christkind jetzt ihr Wohnzimmer verlassen hatte, um zu anderen Kindern zu fliegen, die auch auf ihre Weihnachtsgeschenke warteten. In diesem Augenblick hörten sie den silberhellen Ton eines Glöckchens: Klingling, klingling! Die Türen zum Wohnzimmer sprangen auf und ein großer Glanz strahlte zu den Kindern hinein. Diese blieben überwältigt auf der Türschwelle stehen. Doch dann traten Papa und Mama an die Tür, fassten die Kinder bei der Hand und sprachen: "Kommt nur, liebe Kinder, und seht, was das Christkind euch am Heiligen Abend beschert hat."

 

Kinder Marie und Fritz