nussknacker und mausekönig - Bescherung Bescherung

2) Die Gaben:

 

Ich wende mich an euch selbst, liebe Kinder, die ihr dieses Märchen selbst lest oder auch nur vorgelesen bekommt. Ich bitte euch, euch euren letzten Heiligen Abend wieder recht lebhaft vorzustellen. Dann werdet ihr auch verstehen, warum Marie und Fritz mit glänzenden Augen ganz still und sprachlos stehen blieben. Erst nach einer Weile rief Marie mit einem tiefen Seufzer: "Ach, wie schön - ach, wie schön!" Ihr Bruder Fritz sprang einige Male aus dem Stand hoch in die Luft, was ihm auch gut gelang. Beide Kinder waren aber auch das ganze Jahr über besonders brav und fromm gewesen, denn noch nie war ihnen so viel Schönes beschert worden wie in diesem Jahr.

Der große Tannenbaum in der Mitte des Raumes trug viele goldene und silberne Weihnachtsäpfel. Wie Knospen und Blüten hingen bunte Bonbons und andere Süßigkeiten an allen Ästen. Das Schönste an diesem Wunderbaum waren hunderte kleine Lichter, die in seinen dunklen Zweigen wie winzige Sterne funkelten. Der ganze Baum lud die Kinder geradezu freundlich ein, die Süßigkeiten wie Blüten und Früchte von seinen Ästen zu pflücken. Um den Baum herum glänzten die herrlichsten Geschenke, so dass man sie kaum zu beschreiben vermochte. Marie erblickte die zierlichsten Puppen und dazu allerlei Zubehör für ihre Puppenstube. Besonders schön anzusehen war ein Kleid aus reiner Seide, das mit bunten Bändern geschmückt war. Es hing an einem Kleiderständer, so dass die kleine Marie es von allen Seiten betrachten konnte. Das tat sie denn auch und rief mehrmals nacheinander aus: "Ach, das schöne, ach das liebe Kleidchen; das werde ich auch ganz gewiss selbst anziehen dürfen?"

Fritz war währenddessen schon drei- oder viermal auf seinem neuen Holzpferd um den Tisch geritten. Als er wieder abstieg, meinte er, das sei eine wilde Bestie, aber er werde das neue Pferd schon noch zähmen. Danach musterte er die neuen Spielzeugsoldaten. Diese waren sehr prächtig in Rot und Gold gekleidet und führten silberne Waffen. Sie ritten auf weißen, glänzenden Pferden und trugen hohe Pelzmützen zu kurzen Jacken. Diese berittenen Soldaten waren damals als sogenannte Husaren bekannt; eine größere Gruppe dieser Reiter nannte man eine Schwadron. Und auf diese neue Schwadron Husaren war Fritz jetzt schon sehr stolz!

Nachdem die Kinder sich wieder etwas beruhigt hatten, blätterten sie in den neuen Bilderbüchern, die aufgeschlagen auf einem kleinen Tisch lagen. In diesen entdeckten sie allerlei schöne Blumen und bunte Menschen, ja auch allerliebst spielende Kinder. Die Menschen in den Bilderbüchern sahen so natürlich und lebendig aus, dass es wirklich erstaunlich war.

Soeben begannen Fritz und Marie zu lesen, als ein zweites Mal geklingelt wurde. Die Kinder wussten, dass jetzt die Weihnachtsgeschenke ihres Patenonkels Drosselmeier auf sie warteten. Schnell liefen sie deshalb zu einem Tisch, der an der Wand stand. Jetzt wurde der große Schirm, hinter dem er so lange versteckt gewesen war, weggenommen. Und was erblickten da die Kinder!

Auf einer grünen, mit bunten Blumen geschmückten Wiese stand ein Märchenschloss. Dieses besaß viele Spiegelfenster und goldene Türme. Ein Glockenspiel erklang, während sich Türen und Fenster öffneten. Jetzt sahen die Kinder ganz kleine Damen und Herren, die in den Zimmern des Schlosses herumspazierten. Die Frauen trugen Federhüte und lange Schleppkleider, was zur damaligen Zeit als sehr elegant galt. Im großen Festsaal brannten so viele Kerzen in silbernen Kronleuchtern, dass der ganze Raum strahlend hell erleuchtet war. Dort tanzten Kinder in kurzen Jacken und Röcken zum Klang des Glockenspiels. Ein Herr in einem smaragdgrünen Mantel sah oft durch ein Fenster, winkte heraus und verschwand dann wieder. Auch sah man den Patenonkel Drosselmeier, der als zierliche Figur kaum größer als Papas Daumen war und immer wieder durch das Eingangstor des Schlosses hinein- und herausging.

Fritz hatte beide Arme auf den Tisch gestemmt und betrachtete einige Zeit lang die tanzenden und spazierenden Figuren im Schloss. Dann sprach er: "Onkel Drosselmeier! Ich möchte gerne in dein Schloss hineingehen." Sein Patenonkel erklärte ihm, dass dies nun ganz und gar nicht möglich sei. Er hatte auch recht, denn wie sollte Fritz in ein Schloss hineinkriechen können, das mitsamt seinen goldenen Türmen wesentlich kleiner war als der Junge selbst? Das sah Fritz auch ein. Als die Figuren im Spielzeugschloss immer nur dieselben Bewegungen wiederholten, rief Fritz ungeduldig: "Onkel Drosselmeier, nun komm' doch einmal aus einer anderen Tür heraus." "Das geht nicht, liebes Fritzchen", erwiderte der Patenonkel. "Na gut," sprach Fritz weiter, "dann soll der grüne Mann, der immer aus dem Fenster hinausschaut, jetzt einmal mit den anderen Figuren durch den Festsaal spazieren". "Das geht auch nicht", erwiderte Drosselmeier noch einmal. "So sollen die Kinder aus dem Festsaal hinunter zum Schlosstor kommen", rief Fritz. "Ich will sie mir aus der Nähe ansehen." "Nein, das geht alles nicht", antwortete sein Patenonkel verärgert. "Die im Schloss eingebaute Mechanik kann nicht verändert werden. Alles muss so bleiben, wie es jetzt ist." "So-o?", fragte Fritz in gedehntem Ton, "das geht alles nicht? Wenn deine geputzten, kleinen Figuren im Schloss immer nur dasselbe vorführen können, dann taugen sie nicht viel. Nein, da lobe ich mir meine neuen Husaren. Die sind in kein Haus gesperrt und müssen sich in alle Richtungen bewegen, vorwärts, rückwärts und nach rechts und links, ganz so, wie ich es haben will". Mit diesen Worten sprang er fort an den Weihnachtstisch und ließ seine neue Schwadron Husaren nach Herzenslust hin und her reiten und kämpfen. Auch Marie hatte sich leise fortgeschlichen, denn genau wie ihr Bruder fand sie die Bewegungen der Figuren im Schloss bald langweilig. Aber im Gegensatz zu Fritz war sie viel zu gutmütig und brav, um sich das anmerken zu lassen. Der Patenonkel Drosselmeier sprach verärgert zu den Eltern: "Für unverständige Kinder ist so ein mechanisches Kunstwerk nicht geeignet. Ich werde mein Spielzeugschloss daher wieder einpacken und mit nach Hause nehmen." Doch jetzt trat die Mutter hinzu und ließ sich den inneren Aufbau erklären. Auch das geschickt konstruierte Räderwerk, mit dessen Hilfe die kleinen Figuren sich bewegen konnten, interessierte sie sehr. Drosselmeier nahm alles auseinander und setzte es wieder zusammen. Dabei wurde er wieder ganz vergnügt und schenkte den Kindern noch einige schöne, braune Männer und Frauen mit goldenen Gesichtern, Beinen und Händen. Sie bestanden aus Lebkuchen und rochen so süß und angenehm, dass sich Fritz und Marie sichtlich darüber freuten.

Wie von der Mutter gewünscht, hatte Schwester Luise ihr neues Kleid bereits einmal anprobiert und sah darin wirklich hübsch aus. Auch Marie sollte das schöne Kleid, das ihr zu Weihnachten geschenkt worden war, zur Probe anziehen. Sie meinte aber, dass sie es lieber noch ein wenig auf dem Kleiderständer ansehen wolle. Man erlaubte ihr das gern.

 

nussknacker und mausekönig - Husaren Die roten Husaren!