Nussknacker und Marie im Muschelwagen 

 

 

11) Die Hauptstadt:

 

Wie schon zuvor im Weihnachtswald klatschte der Nussknacker noch einmal befehlend in die Hände. Sofort begannen die Wellen des Rosensees zu steigen und stärker zu rauschen. Als Marie in die Ferne blickte, entdeckte sie einen Muschelwagen, der mit vielen, bunten Edelsteinen verziert war. Gezogen wurde er von zwei Delphinen, deren Schuppen aus purem Gold zu bestehen schienen. Das war nun wirklich ein besonderes Wasserfahrzeug und genau das Richtige für einen Prinzen und seine kleine Prinzessin! Die Besatzung des Muschelwagens bestand aus zwölf kleinen Afrikanern, die in bunte Federkostüme gekleidet waren. Sie sprangen ins Wasser und kamen an Land. Anschließend trugen sie Marie und den Nussknacker auf ihren Armen in den Muschelwagen. Jetzt legte das Fahrzeug wieder ab, um die Hauptstadt des Puppenreichs anzusteuern.

 

Die Überfahrt selbst war wirklich bemerkenswert. Aus den Nüstern der beiden goldfarbenen Delphine spritzten kristallfarbene Strahlen in die Höhe, um in funkelnden und flimmernden Bögen zurück ins Wasser zu fallen. Marie hörte die feinen Stimmen der beiden Delphine, die dazu ein Lied sangen: „Wer schwimmt auf rosigem See? Die Fee! Mücklein, bim bim! Fischlein, sim, sim! Schwäne, schwa, schwa! Goldvogel, trarah! Wellen und Ströme, rührt euch, klinget, singet, wehet, spähet! Feelein kommt gezogen; Rosenwogen, wühlet, fühlet, spület, spült hinan, hinan!“ Allerdings schienen die zwölf Afrikaner über den Gesang der beiden Delphine nicht erfreut zu sein. Sie trugen Sonnenschrme, die aus Dattelblättern gefertigt waren, und schwenkten diese jetzt wild hin und her. Die Dattelblätter stießen dabei so heftig gegeneinander, dass sie knisterten und knatterten. Gleichzeitig stampften die Männer mit den Füßen auf und sangen in einem ganz seltsamen Takt: „Klapp und klipp und klipp und klapp, auf und ab – Unser Reigen darf nicht schweigen. Rührt euch Fische, rührt euch, Schwäne; dröhne Muschelwagen, dröhne! Klapp und klipp und klipp und klapp und auf und ab!“ „Afrikaner sind recht lustige Leute“, bemerkte der Nussknacker etwas betreten, „aber sie werden mir mit diesem Gesang noch den ganzen Rosensee rebellisch machen“. Tatsächlich hörte man auf einmal eine Vielzahl wunderschöner Stimmen, die das Wasser und die Luft erfüllten und verwirrend durcheinander redeten. Marie achtete aber gar nicht darauf, denn sie hatte in den duftenden Rosenwellen ein anmutiges Mädchengesicht entdeckt, das sie anlächelte. „Sehen Sie doch nur, Herr Drosselmeier“, rief sie aufgeregt und klatschte in ihre kleinen Hände. „Dort unten ist die Prinzessin Pirlipat und lächelt mich wunderschön an“. Der Nussknacker seufzte nur und schüttelte langsam den Kopf. „Das ist nicht die Prinzessin Pirlipat, liebste Marie. Es ist immer nur dein eigenes schönes Gesicht, das uns aus den Rosenwellen entgegen lächelt“. Da nahm Marie schnell den Kopf zurück, schloss fest die Augen und schämte sich sehr. Im selben Augenblick wurde sie auch schon von den Afrikanern aus dem Wagen gehoben und an Land getragen. Die Fahrt über den Rosensee war jetzt beendet.

 

Sie befanden sich wieder in einem Waldstück, das beinahe noch schöner als der Weihnachtswald war. In den Bäumen glitzerten und funkelten seltsame Früchte, die dazu noch ganz wunderbar dufteten. „Wir sind im Konfitürenhain“, sprach Nussknacker. „Aber dort hinten liegt endlich das Ziel unserer Reise: die Hauptstadt!“

Marie verschlug es glatt die Sprache, als sie zum ersten Mal die Hauptstadt des Puppenreichs erblickte! Hinter einer riesigen Blumenwiese sah sie mächtige Stadtmauern und Türme in den herrlichsten Farben. Besonders auffällig war die Form der Gebäude. Die Dächer bestanden aus zierlich geflochtenen Kronen, während die Türme Kränze aus grünem Laubwerk trugen. Etwas Derartiges hatte Marie in der Welt der Menschen noch nie gesehen. Als sie das Stadttor passierten, präsentierten Soldaten in silbernen Uniformen das Gewehr. Dann erschien sofort ein bedeutend aussehender Mann in einem roten Seidenmantel mit weißem Pelzkragen. Dieser umarmte unseren Nussknacker sehr herzlich und sagte: „Willkommen, willkommen edelster Prinz in Konfektburg!“ Es beeindruckte die kleine Marie sehr, dass so ein vornehmer Herr ihren Nussknacker ohne Zögern als richtigen Prinzen anerkannt hatte. Aber gleich darauf wurde ihre Aufmerksamkeit von einem nie gekannten Durcheinander von Stimmen in Anspruch genommen. Eine große Anzahl von Menschen jauchzten und sangen, tobten und lachten in vielen verschiedenen Sprachen durcheinander. Sie fragte den jungen Drosselmeier, was diese Geräuschkulisse zu bedeuten habe, aber Nussknacker zuckte nur mit den Achseln. „Liebste Marie,“ erwiderte er, „Konfektburg ist eine Weltstadt, in der viele Menschen aus allen Ländern der Welt wohnen. Hier geht es halt alle Tage sehr lustig und lebhaft zu. Das ist wirklich nichts Besonderes. Wir wollen daher weiter gehen.“ Auf dem großen Marktplatz angekommen bot sich den beiden ein großartiger Anblick.

Alle Häuser der Stadt waren aus schön gearbeitetem Zuckerguss und Schokolade erbaut worden und wiesen viele prachtvolle Balkone auf. Auf diesen saßen schön gekleidete Puppen, die dem bunten Treiben unten in den Straßen zusahen. In der Mitte des großen Marktplatzes stand ein hoher, überzuckerter Baumkuchen. Er diente als Ersatz für einen ägyptischen Obelisken und stand inmitten eines riesigen Springbrunnens. Aus diesem schossen vier Strahlen aus leckerer Limonade hoch in den Himmel und wieder zurück in das Sammelbecken. Für durstige Leute war dies gewiss ein angenehmer Aufenthaltsort.

Am interessantesten waren allerdings die Leute in den Straßen, die einen ziemlichen Lärm verursachten. In dem überall herrschenden Gedränge sah man sämtliche Kleidungsstile und Hautfarben, die es auf dieser Welt gibt. Da gab es elegant gekleidete Damen und Herren, Armenier und Griechen, Juden, Araber und Tiroler, Offiziere und einfache Soldaten, Prediger aller Religionen, Schäfer und Clowns aus dem Zirkus. Allerdings war auch hier das Zusammenleben so vieler und verschiedener Menschen nicht immer einfach. In einer Ecke des Marktplatzes ließ sich ein indischer Großmogul auf einem riesigen Elefanten über den Platz tragen. Natürlich wurde er standesgemäß von dreiundneunzig Adeligen und siebenhundert Dienern begleitet. Zur gleichen Zeit hielt die Gilde der Rosenseefischer einen Festzug ab, der mit fünfhundert Leuten ebenfalls auf den Marktplatz drängte. Aus irgendeinem Grund rückte jetzt auch noch ein türkischer Fürst mit dreitausend Soldaten auf den Marktplatz vor. Den Abschluss bildete eine christliche Kirchenprozession, die sich von Kirchenmusik begleitet auf den Baumkuchen zu bewegte. „Auf danket der mächtigen Sonne“, sangen die Gläubigen inbrünstig, aber in dem Gedränge war es kaum noch möglich überhaupt etwas zu tun. Es dauerte auch gar nicht lange, bis die qualvolle Enge auf dem Marktplatz zu Geschrei und Prügeleien unter den Puppen führte. Die silbernen Wachsoldaten konnten keine Ordnung mehr schaffen, aber dann nahte die Rettung: Der Mann im roten Seidenanzug, der den Nussknacker am Stadttor begrüßt hatte, kletterte geschickt auf die Spitze des Baumkuchens. Dort oben läutete er kräftig mit einer silbernen Glocke und rief so laut wie möglich: „Konditor, Konditor, Konditor!“ Innerhalb weniger Sekunden legte sich der gewaltige Tumult auf dem Marktplatz wieder. Jeder Anwesende versuchte sich zu beruhigen und alle aufgetretenen Schäden möglichst schnell zu beseitigen. Nachdem für einige Minuten auf dem Platz Ruhe eingekehrt war, begann das Gedränge und Getöse wieder von Neuem. „Was bedeutet denn der Ausruf mit dem Konditor, lieber Herr Drosselmeier?“, fragte Marie verwundert. In ihrer Welt war ein Konditor ein Bäcker, der sich auf die Herstellung von Fein- und Zuckergebäck spezialisiert hatte. Im Puppenreich des Nussknackers bestanden viele Gegenstände und Bewohner aus essbaren Materialien, aus denen ein Konditor in der Welt der Menschen seinen Kuchen und sein Gebäck herstellte. „Ach, liebe Marie“, seufzte der Nussknacker betroffen, „als Konditor bezeichnet man in meinem Königreich eine unbekannte und grauenhafte Macht. Es heißt, sie könne alles aus dem Menschen und den Dingen in meinem Reich machen, was sie nur wolle. Meine Untertanen fürchten diese böse Macht so sehr, dass durch die bloße Nennung ihres Namens die größte Unruhe bekämpft werden kann. Der Bürgermeister meiner Hauptstadt hat es dir ja soeben bewiesen. Ein Jeder denkt nicht mehr an Rippenstöße und Beschimpfungen, sondern geht in sich und denkt: Was ist der Mensch und was kann aus ihm werden?“

 

Der Nussknacker und Marie gingen gemeinsam die Hauptstraße entlang, bis Marie voller Erstaunen vor einem rosenroten Schloss stand. Es schien über hundert Türme zu besitzen. Auf die Mauern hatte man viele Blumen gestreut, so dass sie viel schöner und freundlicher wirkten. Die Dächer sämtlicher Gebäude und der Türme waren mit tausenden Sternlichtern übersät, die golden schimmerten. „Jetzt stehen wir vor dem Marzipanschloss,“ erklärte der Nussknacker. Marie bestaunte sprachlos das Märchenschloss. Trotzdem entging ihr nicht, dass das Dach eines Turmes fehlte. Eine ganze Mannschaft von kleinen Puppen war fleißig dabei den Schaden zu reparieren. Noch bevor sie den Nussknacker danach fragen konnte, fuhr dieser mit seinen Erklärungen fort. „Vor wenigen Wochen drohte dem Marzipanschloss die völlige Vernichtung. Der Riese Leckermaul kam vorbei und biss das Dach des Turmes ab, das soeben repariert wird. Er nagte bereits am Dach des Hauptgebäudes mit dem Thronsaal, als die Bürger von Konfektburg ihn stoppen konnten. Sie opferten ein ganzes Stadtviertel und einen Teil des Konfitürenhains. Damit ließ sich der Riese abspeisen und ging seines Weges.“ Marie erkannte jetzt, dass es im Puppenreich genauso gefährlich zugehen konnte wie in ihrer eigenen Welt. Aber das vergaß sie schnell wieder, als sich das Tor des Marzipanschlosses zu öffnen begann. Eine zauberhafte Musik erklang, zu der zwölf hübsche, junge Pagen in prächtigen Kostümen erschienen. Sie waren mit vielen Perlen, Smaragden und Rubinen geschmückt und trugen Fackeln aus brennenden Stengeln von Gewürznelken. Ihnen folgten vier Damen in festlichen Kleidern, die so groß wie Maries Puppe Klärchen waren. Marie erkannte in ihnen sofort die geborenen Prinzessinnen. Alle vier umarmten den Nussknacker sehr liebevoll und zärtlich. Dabei riefen sie: „Oh, mein Prinz, mein bester Prinz! Lieber Bruder, wie sehr haben wir dich vermisst und uns um dich gesorgt!“ Nussknacker war sichtlich zu Tränen gerührt, aber dann ergriff er die Hand der kleinen Marie und sprach sehr pathetisch: „Das Mädchen an meiner Seite, liebste Schwestern, ist die sehr ehrenwerte Marie Stahlbaum. Sie ist die Tochter eines achtbaren Mediziners und hat mir mit ihrer Tapferkeit und Treue das Leben gerettet. In der Schlacht gegen die Mäuse warf sie ihren Pantoffel auf den Feind, als ich in höchster Not war. Sie war es auch, die mir einen scharfen Säbel verschaffte. Mit dieser Klinge konnte ich dem grässlichen Mausekönig das verdiente Ende bereiten. Ohne ihre Hilfe hätte mich dieser Bösewicht zerbissen und ich läge jetzt in meinem Grab!“ Die Prinzessinnen hörten gebannt zu, als der Nussknacker weiter sprach. „Gleicht die berühmte Prinzessin Pirlipat unserer Marie etwa an Schönheit, Güte und Tugend? Kann sie sich mit Maries Treue und Tapferkeit messen? Nein, das kann Pirlipat wahrlich nicht, sage ich“. Der Nussknacker konnte sich ein derartiges Urteil erlauben, denn er hatte den undankbaren Charakter der Prinzessin Pirlipat selbst erlebt. Aber das alles, liebe Kinder, haben wir ja bereits im Märchen von der harten Nuss erfahren.

 

Die vier Prinzessinnen waren zu Tränen gerührt und geleiteten Marie und den Nussknacker in den sogenannten Kristallsaal des Schlosses. Dessen Wände bestanden aus reinem Bergkristall, der mit einigen grünen Smaragden und roten Rubinen verziert worden war. Besonders gut gefielen Marie die edlen Möbel aus Zedernholz. Im Saal standen Stühle, Tische, Kommoden und Schreibsekretäre verschiedener Größen und in edler Verarbeitung. Nachdem sich alle um einen großen Tisch gesetzt hatten, begannen die Prinzessinnen eigenhändig eine Mahlzeit für ihre Gäste zu bereiten. Ihre Dienerinnen stellten alle möglichen Küchengeräte auf den Tisch und dazu Lebensmittel aller Art. Marie erkannte schnell, dass alle Prinzessinnen ausgezeichnete Köchinnen sein mussten. Ihre keinen, weißen Hände arbeiteten geschickt und schnell. Dieser Anblick erweckte den Wunsch in Marie ihre eigene Kochkunst beweisen zu können. Obwohl sie erst sieben Jahre alt war, hatte ihre Mutter das kleine Mädchen schon gut in der hohen Kunst des Kochens unterrichtet. Eine der Prinzessinnen schien ihren Wunsch erraten zu haben. „Bitte helfen Sie uns uns ein wenig, teuerste Retterin unseres Bruders“, bat sie die kleine Marie und reichte ihr einen Mörser mit Stößel. „Sie könnten den Kandiszucker für den Pudding fein zermahlen“. Während Marie fleißig den Zucker im Mörser mit dem Stößel zerkleinerte, erzählte der Nussknacker weitläufig, was alles seit dem letzten Heiligabend im Haus der Familie Stahlbaum geschehen war. Er berichtete von der Schlacht, in der er aufgrund der Feigheit seiner Truppen besiegt worden war. Und darüber, dass der Mausekönig Marie bedroht und erpresst hatte. Er hob hervor, dass Marie einige seiner Untertanen, die in ihre Dienste getreten waren, opfern musste, um sein Leben zu retten. Andernfalls hätte ihn der Mausekönig zerbissen, da er waffenlos im Glasschrank stand. Während der Nussknacker so erzählte, verschwamm die Umgebung um Marie herum immer mehr vor ihren Augen. Ein seltsames Licht durchflutete den Raum, während gleichzeitig Nebelschwaden vom Boden aufstiegen. Die Stimmen des Nussknackers und der Prinzessinnen entfernten sich immer mehr von Marie. Jetzt bemerkte sie, dass sie immer höher und höher zu schweben begann, immer höher und höher............

 

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