5-1) Die Schlacht:
(Anmerkung: Die Bilder zur Schlacht finden Sie im nächsten Kapitel 5-2)
"Alarmieren Sie unsere Truppen!", befahl Nussknacker dem Trommler mit energischer Stimme. Sofort begann dieser so geschickt auf seiner Trommel zu schlagen, dass die Glasscheiben des Schranks erzitterten. Nun rumpelte und klapperte es im Schrankinneren. Marie sah, dass die Deckel jener Schachteln von innen geöffnet wurden, in denen die Armee ihres Bruders Fritz einquartiert war. Die Spielzeugsoldaten kletterten aus den Schachteln heraus und sprangen hinunter auf den Fußboden. Dort sammelten sie sich dicht vor der Fußleiste des Glasschranks. Nussknacker lief vor dem Schrank hin und her, während er begeisterte Worte zu seinen Soldaten sprach. "Kein Hund von Trompeter regt und rührt sich!", schrie Nussknacker erbost, wandte sich dann aber schnell an den General Pantalon. Dieser war durch die kritischen Worte seines Feldherrn etwas blass geworden und wackelte mit seinem langen Kinn. Also sprach Nussknacker feierlich: "General, ich kenne Ihren Mut und Ihre Erfahrung. Jetzt gilt es den Überblick zu behalten und die Gunst der Stunde auszunutzen. Ich vertraue Ihnen das Kommando über die gesamte Reiterei und sämtliche Kanonen an. Ein eigenes Pferd steht zu Ihrer Verfügung. Bereiten Sie jetzt den Angriff unserer Truppen vor". Sogleich gab Pantalon seinem Trompeter ein Zeichen und dessen heller Trompetenklang schallte durch den ganzen Glasschrank. Daraufhin hörte man ein Wiehern und Stampfen, denn die berittenen Soldaten, die sogenannte Kavallerie, rückte aus. Die Pferde mit ihren Reitern glitten wie von Zauberhand bewegt langsam durch die Luft herab und hielten unten auf dem Fußboden. Voran ritten die roten Husaren, dahinter die Dragoner mit ihren hohen Mützen und Gewehren. Den Schluss bildeten die sogenannten Kürassiere, deren Brustpanzer und Metallhelme im Licht der Deckenlampe schimmerten. Der letzte Reiter war gerade auf dem Zimmerboden gelandet, als ihm auch schon die schweren Kanonen folgten. Langsam schwebten diese herab und wurden vor der Schrankleiste von den Spielzeugsoldaten in Empfang genommen.
Nun zog Regiment auf Regiment mit wehenden Fahnen und klingendem Spiel an seinem Feldherrn Nussknacker vorüber. Danach stellten die Truppen sich in breiter Schlachtlinie quer über den Boden des Zimmers auf. Den rechten Flügel der Spielzeugarmee bildete die Kavallerie; in der Mitte kämpften die Fußsoldaten gemeinsam mit verschiedenen Puppen, während die Zierfiguren aus Porzellan den linken Flügel bildeten. Vor ihnen her fuhren rasselnd die Kanonen auf, umgeben von ihren Kanonieren. Bald darauf knallte es immer wieder und Marie sah, dass die Kanonen Zuckererbsen in die Mäuse schossen. Diese wurden davon ganz weiß überpudert und schämten sich sehr. Den größten Schaden richtete aber eine Kanonenbatterie an, die auf Mamas Fußbank aufgefahren war. Ihre Kanonen verschossen kleine Nüsse über die Köpfe der Kavallerie hinweg. Die getroffenen Mäusesoldaten fielen zu Boden und wurden ohnmächtig. Trotz dieser Verluste kamen die Mäuse aber immer näher an die Kanonen heran und warfen sogar einige um. Ein höllischer Kampflärm erfüllte das Zimmer und vor lauter Rauch und Staub konnte Marie kaum noch erkennen, was auf dem Schlachtfeld geschah. Fest stand aber, dass die Spielzeugarmee sich mit größter Erbitterung schlug und der Sieg lange hin und her schwankte. Die Mäusearmee wurde laufend durch neue Mäuse verstärkt, so dass sie der Armee des Nussknackers zahlenmäßig überlegen war. Die Mäuse schleuderten kleine, silberne Pillen sehr geschickt auf ihre Gegner und trafen damit sogar schon die Puppenstube im untersten Fach des Glasschranks. Verzweifelt liefen Trutchen und Klärchen in ihrem Wohnzimmer umher und rangen sich die Hände wund. "Soll ich in meiner blühendsten Jugend sterben, ich, die schönste der Puppen?", schrie Mamsell Klärchen. "Habe ich mich nur deshalb so gut gepflegt, um hier in meinen eigenen vier Wänden umgebracht zu werden?", rief Trutchen. Dann fielen sie sich beide um den Hals und heulten so laut, dass man es trotz des Lärms um sie herum noch hören konnte. Denn den Kampflärm, der nun losging, könnt ihr euch kaum vorstellen, liebe Kinder. Es knallte und dröhnte in einem fort, während die Mäuse und der Mausekönig schrien und quiekten. Die Trommeln und Trompeten der Spielzeugarmee riefen die Truppen zum Angriff und die Pferde der Kavallerie wieherten aufgeregt. Dann hörte man wieder Nussknackers gewaltige Stimme. Er erteilte nützliche Befehle und man sah ihn, wie er über die im Feuer stehenden Truppen hinweg schritt. General Pantalon hatte mit seiner Kavallerie zuerst erfolgreich angegriffen und sich mit Ruhm bedeckt. Leider wurden seine Husaren von den Mäusen mit übelriechenden Kugeln beworfen. Diese hinterließen hässliche Flecken auf ihren roten Jacken, wodurch ihr Kampfgeist gewaltig sank. Pantalon erlaubte ihnen deshalb den Kampf abzubrechen und ritt gemeinsam mit den Husaren zurück in den Glasschrank. Daraufhin schwenkte die restliche Kavallerie nach rechts ab und ging auch nach Hause. Denn ohne ihren General und die roten Husaren wollten sie nicht mehr weiter kämpfen. Durch den feigen Rückzug der Kavallerie gerieten jetzt die Kanonen in Gefahr, die auf Mamas Fußbank aufgefahren waren. Pantalons Reiter hatten die Fußbank bisher gegen die Mäuse verteidigt. Es dauerte auch gar nicht lange, bis ein großer Haufen besonders dicker und hässlicher Mäuse gegen die Fußbank anrannte und diese umwarf. Kanonen, Nüsse und Kanoniere purzelten durcheinander. Nussknacker war darüber sehr bestürzt und befahl, dass der rechte Flügel seiner Armee nach hinten zurückweichen solle.
Ihr, liebe Kinder, könntet jetzt schon das Unglück betrauern, das über die Armee des kleinen Nussknackers kommen sollte! Aber wendet eure Augen von diesem Unheil ab und betrachtet den linken Flügel seiner Armee. Dort steht alles noch sehr gut und der Feldherr und dessen Truppen können auf den Sieg hoffen. Während der schwersten Kämpfe war leise, ganz leise, eine große Abteilung Mäusesoldaten unter der Kommode herausgekommen. Sie warf sich unter lautem, gräßlichen Gequieke und mit großer Wut auf den linken Flügel der Spielzeugarmee. Aber auf welchen Widerstand stießen sie da! Die Zierfiguren aus Porzellan waren langsam über die Bodenleiste des Schranks vorgerückt und hatten sich in einer viereckigen Schlachtformation aufgestellt. Diese tapferen, sehr bunten und herrlichen Truppen bestanden aus Gärtnern, Tirolern, Friseuren, Clowns, Löwen, Tigern und Affen. Sie wurden von zwei chinesischen Kaisern angeführt und kämpften mit Fassung, Mut und Ausdauer. Mit ihrer großen Tapferkeit hätte diese Elitetruppe den Feind beinahe in die Flucht geschlagen. Doch leider biss ein tollkühner Mäusesoldat einem der beiden chinesischen Kaiser den Kopf ab. Als dieser umfiel, erschlug er noch zwei Gärtner und einen Affen. Dadurch entstand eine Lücke in der Schlachtlinie, durch die die Mäuse eindringen konnten. Bald darauf waren alle Zierfiguren zerbissen. Doch die Mäuse hatten keinen Vorteil von dieser bösen Tat. Sobald ein Mäusesoldat einen seiner Gegner mordlustig zerbiss, verschluckte er einen kleinen gedruckten Zettel, den jede Zierfigur im Körper trug. Daran starb die Maus dann sofort.
Aber was half das noch der Spielzeugarmee, die immer weiter zurückweichen musste und immer mehr Leute verlor? Schließlich hielt der Nussknacker nur noch mit einem kleinen Rest seiner Kämpfer dicht vor dem Glasschrank. „Die Reserve soll heran!“, rief er verzweifelt und hoffte auf neue Truppen, die aus dem Glasschrank anrücken sollten. „General Pantalon, Soldaten, Trommler, wo seid ihr?“ Es erschienen auch einige braune Männer und Frauen aus Lebkuchen, aber diese kämpften so ungeschickt, dass sie ihrem Feldherrn Nussknacker beinahe die Mütze vom Kopf gestoßen hätten. Die feindlichen Mäuse bissen ihnen auch bald die Beine ab, so dass sie im Fallen noch einige ihrer eigenen Kameraden erschlugen. Jetzt wurde Nussknacker vom Feind dicht umringt und befand sich in höchster Angst und Not. Er wollte über die Leiste des Schranks in dessen Inneres springen, aber seine Beine waren zu kurz. Klärchen und Trutchen waren vor Schreck ohnmächtig geworden und konnten ihm nicht mehr helfen. Husaren und Dragoner sprangen feige auf ihren Pferden in den Schrank hinein, anstatt ihren Feldherrn gegen die Mäuse zu beschützen. Da schrie Nussknacker in heller Verzweiflung auf: „Ein Pferd, ein Pferd, ein Königreich für ein Pferd!“
In diesem Augenblick packten ihn zwei Mäusesoldaten von hinten an seinem hölzernen Hebel und hielten ihn fest. Im Triumph aus allen sieben Kehlen laut aufquiekend sprang der Mausekönig heran, denn er wollte den Nussknacker in Stücke beißen.
Marie war außer sich vor Entsetzen. „Oh, mein armer Nussknacker – mein armer Nussknacker!“, rief sie weinend und zog ihren linken Schuh aus. Dann warf sie ihn mit aller Kraft in den größten Haufen der Mäuse und genau auf den Mausekönig. In diesem Augenblick verstummte der Schlachtlärm und alles schien sich wie in einem Nebel aufzulösen. Marie empfand noch einen stechenden Schmerz im linken Arm, bevor sie ohnmächtig zu Boden sank.